Henry Martin. In memoriam
Ein persönlicher Nachruf über den kürzlich verstorbenen Künstler Henry Martin, verfasst von Andreas Hapkemeyer (in deutscher Sprache)
Vor wenigen Tagen ist nach über zweijährigem Leiden das Leben eines der Großen der Kultur unseres Landes zu Ende gegangen. Er ist still gegangen, so wie er gelebt hat. Der Verlust ist erheblich. Die Rede ist von Henry Martin, der 1942 in Philadelphia geboren ist und seit Ende der 1960er Jahre mit seiner Frau, der Künstlerin Berty Skuber, und später seinem Sohn Johnny in Völser Aicha lebte.
Er hatte Mitte der 1960er Jahre die USA verlassen, als die Afroamerikaner auf ihre Rechte zu pochen und die weißen Studenten sich gegen den Kapitalismus zu wenden begannen. Er selbst, der eine renommierte Universität in den USA besucht konnte, schien von der Rassenfrage nicht traumatisiert. Der Hirnschlag, der ihn Anfang 2020 aus seinem Alltag riss, traf ihn am Tag des Sturms der Trump-Anhänger auf das Kapitol. Dieser Sturm auf alle Grundsätze, an die er als Amerikaner glaubte, konnte ihn nur maßlos aufregen. Ob es einen kausalen Zusammenhang mit dem ihm widerfahrenen Unglück gibt, können wir nur vermuten.
Henry war auf raffinierte Weise gebildet und sehr belesen, er sprach außer seiner Muttersprache Englisch auch Italienisch, Französisch und Deutsch auf hohem Niveau.
Henry liebte die Kunst, aber nicht den Kunstbetrieb. Deshalb hatte er die Distanz zu New York, dann aber auch zu Mailand gesucht, wo er eine Zeitlang an der Bocconi englische Literatur des Mittelalters unterrichtete.
Henry war in höchstem Maße unprätentiös. Dabei war er international bekannt und vernetzt. Über Henry bestand eine direkte Verbindung zu vielen New Yorker Künstlern der 1960er Jahre, vor allem dem Fluxus-Umfeld. Die 1992 von ihm im Museion unter Direktion von Pier Luigi Siena realisierte Ausstellung „Fluxers“ aktivierte ein Dutzend dieser Künstler und Künstlerinnen: Jean Depuy, Ben Patterson, Takako Saito, Geoffrey Hendricks, Ken Friedman, Eric Anderson, Dick Higgins, Ben Vautier, Giuseppe Chiari, George Brecht… Ein guter Teil von ihnen nahm damals die Gelegenheit wahr, nach Bozen zur Eröffnung zu kommen und damit Bozen für einige Tage zum Ort eines internationalen Künstlertreffens zu machen. Zur Ausstellung erschien eine schöne, bis heute im Museion aufliegende Mappe mit 12 Multiples. Unvergessen Henrys Einführung in den Katalog, in der er schreibt, dass viel über Fluxus gesagt worden ist, dass aber das Spezifische von Fluxus sich einer einzigen Definition entzieht. Das schrieb einer der international anerkanntesten Fluxus-Kenner. Das sokratische „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ war am ehesten die Sache dieses großen Bescheidenen.
1997 stellte er für Museion die Ausstellung „Garten der Lüste“ zusammen, in der neben Werken seines Lebensfreundes Gianfranco Baruchello auch Werke von Wols, Paul Klee, Öyvind Fahlström und anderen vertreten waren. Zusammen mit Baruchello hat Henry Martin ein für ihn wichtiges Buch über Marcel Duchamp, den rätselhaften Großmeister der Avantgarde geschrieben.
Henry Martin, u.a. Verfasser eines Buches über den bedeutenden Fluxus-Künstler George Brecht und unendlich vieler Kommentare und Einführungstexte, hat immer klar und nachvollziehbar geschrieben, eben wie jemand, der seinen Gegenstand durchdrungen hat und ihn deshalb deutlich darstellen kann. Auch bei den vielen Übersetzungen, die er im Lauf seines Lebens für italienische, deutsche, österreichische, amerikanische Institutionen und Galerien macht, besteht er auf Klarheit in der Zielsprache.
In einem Interview, das er Gabriele Crepaz 2019 gab, sagte er: „Es gibt das Leben, es gibt den Tod. Da sind wir alle gleich. Man muss einfach leben. Damit leben können, dass es Fragen gibt, die keine Antwort haben.“
Bei einem unserer letzten Treffen sagte ich beim Weggehen zu ihm (halb, aber nur halb) im Scherz, ob er nicht einmal daran gedacht hatte, Aphorismen zur Kunst zu schreiben. Ich würde ihm gerne dabei assistieren. Er war inzwischen durch das Alter etwas müde geworden. Und er antwortete mir (halb, aber vielleicht auch nur halb) im Scherz, dass er sich das überlegen werde. Die Aphorismen dieses kritischen und zuletzt aus olympischer Distanz beobachtenden Kunstkenners hätte ich wirklich gerne gelesen, ich bin sicher – mit großem Gewinn. Ich kann mir vorstellen, dass es vielen anderen auch so ergangen wäre. Mit Henry ist nicht nur ein großer Geist, sondern auch ein unendlich freundlicher, geduldiger und – ja das auch – unendlich heiterer Mensch von uns gegangen. Ein guter Ehemann, Vater und Freund. Seine Person und seine Sichtweise werden uns auf unsichtbare Weise sehr fehlen.
Andreas Hapkemeyer