Die Rehabilitation von Menschen mit schweren psychischen Belastungen durch Design zu verbessern: Das ist das Ziel von Patternhouse.org. Dieses innovative Forschungsprojekt wird seit mehr als fünf Jahren in den Werkstätten des psychiatrischen Reha-Zentrum Haus Basaglia in Sinich (Meran) angewendet. Dank der Initiative JOINING PATTERNS: Stitch and leave a mark! im Atelierhaus des Museion öffnet sich die Werkstatt von Patternhouse.org für alle Interessierten.
Die Grundidee der Patternhouse-Methode basiert auf einem einfachen und klar strukturierten kreativen Workflow, mit dem kognitive Fähigkeiten in einer entspannten Atmosphäre trainiert werden. „Jeder und jede, gleich welche handwerklichen Fähigkeiten oder Vorkenntnisse sie besitzen, kann autonom und auf dem eigenen Level arbeiten, kreativ und mit Erfolgsgarantie, was für den Heilungsprozess von großer Bedeutung ist“, erklärt Martina Drechsel, Gründerin von Patternhouse, die Dr. Saskia Rusche, wissenschaftliche Leiterin bei cBRAIN (Child Brain Research and Imaging in Neuroscience an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Direktorin Prof. Inga Koerte), zum Thema Kreativität, Gehirnmechanik und Rehabilitationsprozesse interviewt hat.
Martina Drechsel: Im kreativen Rehabilitationsprozess der Patternhouse-Methode kombinieren wir verschiedene Aktivitäten wie Kopieren, Kolorieren, das Treffen von Entscheidungen und Sticken. Gibt es bestimmte Aktivitäten, die mental besonders hilfreich sind, oder ist es die Kombination aller Tätigkeiten, die den größten Nutzen bringt?
Saskia Rusche: Jede dieser Aktivitäten fördert tatsächlich unterschiedliche Fähigkeiten und Hirnfunktionen. Kopieren und Kolorieren stärken visuelle und motorische Fertigkeiten, während das Entscheiden exekutive Funktionen wie Planung und Kontrolle anspricht. Sticken regt wiederum feinmotorische Prozesse an. In der Rehabilitation ist der größte Nutzen oft die Kombination dieser Tätigkeiten, da sie verschiedene Gehirnregionen aktivieren und das Zusammenspiel kreativer und kognitiver Netzwerke fördern.
Es gibt auch andere positive Aspekte…
Zusätzlich zeigt die Forschung auch, wie wichtig Freude und soziale Verbundenheit für die Neuroplastizität des Gehirns sind. Der Mensch und sein Gehirn sind über Millionen Jahre auf soziale Interaktionen ausgelegt worden. Wenn wir uns sicher und verbunden fühlen, werden Hormone wie Oxytocin ausgeschüttet, die uns signalisieren: „Ich bin nicht allein, es gibt viele, die Ähnliches erleben.“ Diese Freude und das Gemeinschaftsgefühl fördern die Flexibilität und Lernfähigkeit des Gehirns, da neue Synapsen gebildet oder schwache Verbindungen gestärkt werden. Die Patternhouse-Methode nutzt diesen Effekt gezielt durch einen spielerischen und entspannten Ansatz, bei dem die Freude am Tun, der soziale Aspekt des gemeinsamen Stickens und das gegenseitige Feedback eine zentrale Rolle spielen.
JOINING PATTERNS: Stitch and leave a mark! Workshop Museion Atelier Haus, 2024.
Wie definieren Sie als Neurowissenschaftlerin Kreativität?
Kreativität wird als die Fähigkeit betrachtet, neue und nützliche Verbindungen zwischen bestehenden Informationen zu schaffen. Dafür ist ein Zusammenspiel verschiedener Gehirnregionen – sogenannter Netzwerke – entscheidend. Da ist zunächst das Default Mode Network (DMN) oder Ruhezustandsnetzwerk, das aktiviert wird, wenn wir in Gedanken versinken, nachdenken oder uns auf unser Innenleben konzentrieren. Es hilft uns, Assoziationen zu bilden und neue Ideen zu entwickeln. Das Exekutivnetzwerk (Executive Control Network, CEN) ist für die zielgerichtete Kontrolle unserer Ideen verantwortlich – es sorgt dafür, dass wir aus spontanen Einfällen umsetzbare Pläne machen können. Das Zusammenspiel dieser Netzwerke macht Kreativität erst möglich, denn Kreativität ist nicht nur eine Frage von Inspiration, sondern vor allem auch von Vorwissen, Planung und Struktur.
Welche Prozesse laufen im Gehirn ab, wenn wir kreativ tätig sind?
Wenn wir kreativ sind, müssen die Netzwerke gut aufeinander abgestimmt sein. Das DMN sorgt für die Generierung und Verbindung neuer Ideen und fungiert als „Sprungbrett“ für kreative Einfälle. Das CEN hilft, diese Ideen zu ordnen und zu bewerten – etwa zu entscheiden, welches Stickmuster sinnvoll ist und wie die Farben konkret angeordnet werden können. Ein drittes Netzwerk, das Salienznetzwerk, steuert dabei den Wechsel zwischen freiem Denken und gezieltem Planen.
JOINING PATTERNS: Stitch and leave a mark! Workshop Museion Atelier Haus, 2024.
Funktioniert das bei allen gleich?
Interessanterweise zeigt die Forschung, dass bei psychischen Erkrankungen dieses Zusammenspiel oft gestört ist. Beispielsweise kann das DMN hyperaktiv sein, was zu Grübeln und depressiven Stimmungen führt. Gleichzeitig hat das CEN zu wenig Kontrolle, um diese Gedanken sinnvoll zu ordnen. Auch eine fehlerhafte Steuerung durch das Salienznetzwerk kann dazu führen, dass der Wechsel zwischen kreativen Impulsen und zielgerichtetem Handeln nicht mehr reibungslos funktioniert. Das macht deutlich, wie wichtig ein gut abgestimmtes Zusammenspiel dieser Netzwerke nicht nur für Kreativität, sondern auch für unsere mentale Gesundheit ist.
Ist es möglich, Kreativität zu trainieren oder zu verbessern?
Ja, Kreativität lässt sich definitiv fördern! Techniken wie Brainstorming oder Mindmapping helfen dabei, kreativ zu denken. Wichtig ist auch, wie wir mit eigenen Fehlern oder Misserfolgen umgehen: Statt Fehler zu vermeiden, sollten wir sie als Lernchancen sehen. Oft entstehen die besten Ideen gerade dann, wenn man unorthodox denkt oder Neues ausprobiert. Besonders in der Forschung setzen wir häufig auf den „High Risk, High Gain“-Ansatz, bei dem wir bewusst hohe Risiken eingehen, um möglicherweise bahnbrechende Erkenntnisse zu gewinnen.
Gibt es Unterschiede in der Kreativität zwischen verschiedenen Altersgruppen?
Jüngere Menschen denken oft flexibler und spontaner, was ihnen hilft, besonders originelle Ideen zu entwickeln. Orson Welles sagte einmal, dass gerade seine Unwissenheit und Naivität ihm die Freiheit gaben, alles zu filmen, was er sich vorstellen konnte – während erfahrenere Filmemacher*innen wohl gesagt hätten: „Das geht nicht, das ist nicht filmbar.“ Ältere Menschen dagegen bringen Lebenserfahrung mit, die kreative Prozesse sowohl hemmen als auch fördern kann. Doch ganz gleich, ob jung oder alt: Das Gehirn bleibt bis ins hohe Alter plastisch – also lern- und anpassungsfähig. Kreativität lässt sich in jedem Lebensabschnitt bewahren und sogar noch weiterentwickeln – man muss allerdings etwas dafür tun!
JOINING PATTERNS: Stitch and leave a mark! Workshop Museion Atelier Haus, 2024.
JOINING PATTERNS: Stitch and leave a mark! ist ein innovatives Projekt, das in Zusammenarbeit mit Patternhouse.org realisiert und von Brita Köhler (Verantwortliche Besucherservice – Bildungsprojekte des Museion) und Martina Drechsel kuratiert wird. Die Initiative ist Teil des Begleitprogramms der Ausstellung AMONG THE INVISIBLE JOINS Werke aus der Sammlung Enea Righi und findet vom 14. November bis 12. Dezember 2024 im Museion Atelierhaus statt. Die Veranstaltung bietet eine Reihe von kreativen Workshops und Gesprächen mit Expert*innen, um das Bewusstsein für die Bedeutung der psychischen Gesundheit und des kulturellen Wohlbefindens zu fördern.
Martina Drechsel ist die Gründerin und Kreativdirektorin von Patternhouse.org, einem forschungsbasierten Designprojekt, das darauf abzielt, den Rehabilitationsprozess für Menschen mit großen psychischen Belastungen neu zu gestalten. In Zusammenarbeit mit Psychiater*innen entwickelte sie innovative Ansätze, die Menschen mit psychischen Erkrankungen dabei unterstützen, ihre Fähigkeiten effektiv zu trainieren oder wieder neu zu erlernen – durch autonomes kreatives Arbeiten. Sie arbeitet zudem als Dozentin für Visuelles Denken und lehrt an Hochschulen, in Unternehmen und an wissenschaftlichen Instituten, wie man mit Stift und Papier komplexe Inhalte zeichnerisch klar kommunizieren kann.
Dr. Saskia Rusche ist wissenschaftliche Leiterin bei cBRAIN (Child Brain Research and Imaging in Neuroscience an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Direktorin Prof. Inga Koerte). Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der Nutzung multimodaler Bildgebungsverfahren, um die Pathophysiologie psychiatrischer und neurologischer Erkrankungen zu erforschen. Derzeit entwickelt sie zusammen mit Forscher*innen der Harvard Medical School eine innovative Neurofeedback-Therapie zur Modulation und Normalisierung dysfunktionaler Netzwerke bei psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen.