Bulletin #14

Unendlich viele Arten, Mensch zu sein

Der Amsterdamer Dichter Gershwin Bonevacia in Bozen

von Gershwin Bonevacia
#Community #Gedicht
Gershwin Bonevacia und Jakob Haller bei Hof des Wandels, Eppan Foto: Elisa Cappellari

„Aneinander vorbeireden“ (Talking past each other): So lautet das Thema der vom Museion Art Club initiierten Künstler*innenresidenz, die den Amsterdamer Dichter Gershwin Bonevacia als ersten Gast in Bozen begrüßen konnte. Heute ist Bonevacia ein erfolgreicher Autor, doch kommt in seinen Werken das Ringen um Selbstbehauptung entgegen aller Widerstände immer wieder zur Sprache: „Wir tragen all das mit uns, was schiefging“, schreibt er in einem seiner Gedichte. Darüber und über die Erfahrungen, die er in Bozen zwischen Poesie, Essen und Musik gesammelt hat, unterhielten wir uns im folgenden Gespräch mit ihm.

Gershwin Bonevacia Foto: Elisa Cappellari

Auf Einladung des Museion Art Club hast du dich eine Zeit lang in Bozen aufgehalten: Welche Eindrücke hast du von der Stadt gewonnen, auch im Vergleich zu Amsterdam, wo du ja lebst?

Meine Zeit in Bozen war eine faszinierende Erfahrung und stand in starkem Gegensatz zu meiner Jugend, die ich in einer städtisch geprägten Umgebung verbracht habe. Aufgewachsen bin ich inmitten von Chaos und Hektik, wohingegen Bozen mir einen völlig anderen Lebensrhythmus bot. Nicht nur die umliegende Natur, auch der Takt, in dem die Menschen hier leben, und ihr Umweltbewusstsein haben mich beeindruckt. Es schien so, als bewegten sich die Einwohner*innen auf einer ganz anderen Frequenz: ruhiger und gegenwärtiger im Moment. Besonders interessant fand ich den Aspekt der Zweisprachigkeit sowie die komplexe Geschichte, die in jeder Straße und jedem Gebäude zu spüren ist.

Gershwin Bonevacia mit Elisa Barison Foto: Elisa Cappellari

Apropos Sprache: Um dich auszudrücken, benutzt du das Niederländische, das ja nicht deine Muttersprache ist … Wie kam es hierzu? Fühlst du dich in der niederländischen Sprache „zu Hause“?

Tatsächlich ist Niederländisch die Sprache, in der ich mich auf einer emotionalen und geistigen Ebene am besten auszudrücken verstehe. Sie hat einen bestimmten strukturellen Aufbau, der es mir erlaubt, die Schattierungen der Dinge zu erfassen. Das Niederländische bietet mir die Möglichkeit, tiefgreifendere Gedanken zu formulieren und abstrakten Begrifflichkeiten in einer Weise nachzuspüren, die sich für mich natürlich anfühlt.

Thematisch kreisen die Residenz in Bozen und die Begegnungen, die du hier gemacht hast, vor allem um die Vorstellung des Aneinander-Vorbeiredens. Dabei verwoben sie einen Dialog mit verschiedenen Ausdrucksformen wie der Musik und auch der Kochkunst … Welche Eindrücke und Emotionen nimmst du für dich mit aus dieser Erfahrung?

Was mir die Erfahrungen hier vor allem vermittelt haben, sind die unzähligen Perspektiven, die ich durch die Begegnung mit verschiedenen Menschen kennenlernen durfte. Jede Interaktion hat mir neue Einblicke eröffnet in die Weise, wie andere die Welt erleben: Emotionen, die ich so noch nie gefühlt habe, Sichtweisen, die meine Denkmuster infrage stellten. Diese Begegnungen haben mich gelehrt, dass es unendlich viele Arten gibt, Mensch zu sein, wobei jede ihre eigene Wahrheit und Schönheit besitzt.

Gershwin Bonevacia mit Valentin Gasser Foto: Elisa Cappellari

In mehreren deiner Werke finden persönliche Erfahrungen ihren Niederschlag: Heute bist du ja ein renommierter Dichter und Autor, doch war deine Ausgangssituation alles andere als einfach, und zu verschiedenen Schwierigkeiten kam zudem noch eine Legasthenie hinzu. In dem Gedicht Kinderen die downloaden schreibst du

…We wear it,

everything that went wrong here.

Wie ist es dir gelungen, dich aus dieser Situation zu lösen, dir nicht mehr all das aufzubürden, „was schiefging“? Auf welche inneren Kräfte hast du dich dabei gestützt?

Dass ich meine Leidenschaft für die Sprache und Literatur bereits in jungen Jahren entdeckt habe, spielte eine entscheidende Rolle für meine Entwicklung. Dieses kreative Ventil wurde zu einem Bezugspunkt in meinem Leben, zu einem Fundament, auf dem ich Selbstvertrauen aufbauen konnte, ungeachtet der Hindernisse, die sich mir in den Weg stellten. Die Dichtung und das Schreiben boten mir nicht nur eine Möglichkeit, meine Gefühle auszudrücken, sondern waren zugleich eine Linse, durch die hindurch ich die umgebende Welt betrachten und deuten konnte. Diese Form des Zugangs, die ich schon früh erworben habe, gab mir in schwierigen Augenblicken Halt und gestattete mir, resilient zu werden angesichts der Schwierigkeiten, die das Leben mit sich bringt.

Kinderen die downloaden


There are good children and bad children.
The bad children were left by their father,
the good children go home for lunch.
All the bad children are picked up
by a cousin.
Sometimes the cousin doesn’t come.
The good children go camping,
all the bad children are bullied.
Girls are prepped for a cycle.
You’ll be glued together if you’re a broken child,
but only if you stop being ashamed.
Good children are shy,
bad children don’t give a damn.
The good children don’t mix with the bad children,
never move away, hum soft.
All bad children have an uncle,
sometimes the uncle is also the brother.
All bad children have a grandma,
sometimes the grandma is also the mother,
sometimes the mother is the lunch lady.
The playground is a kind of collective therapy.
The bad children are activists,
the good children have a credit score.
I’m punished when I mess up.
This is a call to all the weird children,
children without hobbies
I mean: children without any free time.
Children who want to be held,
children who can’t be held.
Children who resist must be managed.
18This is a message for children who march in purple tights,
the strange children, the poor children,
the ugly, unvaccinated children.
Children who were left behind,
desparate and worthless.
The worthless children,
the lonely worthless children,
the lonely worthless children with no food,
so with no body.
We wear it,
everything that went wrong here.
Each body that’s surrendered.
All soft, all meat, all bone,
voice, tear, shout.
Let it be known:
you’re never just one thing,
we are all everything,
but everything falls short.

Gershwin Bonevacia ist ein vielseitiger Künstler: Dichter, Schriftsteller und Musiker ebenso wie Podcast- und Theatermacher. Von März 2019 bis Januar 2022 war er Stadtdichter von Amsterdam. Sein Werk ist tief in der zeitgenössischen Poesie verwurzelt und umfasst erfolgreiche – und mehrfach aufgelegte – Gedichtsammlungen, wie etwa Ik heb een fiets gekocht (2017), Toen ik klein was, was ik niet bang (2021) und De stad is ook van mij (2024), wobei Letztere während seiner Zeit als Amsterdamer Stadtdichter verfasst wurde. Sein autobiografisches Theaterstück Terug naar Prinsenplein gelangte 2023 zur Uraufführung.

Die Bozen-Aufenthalt des Dichters Gershwin Bonevacia ist Teil von TALKING PAST EACH OTHER (Aneinander vorbeireden / Parlare unə accanto all’altrə), einem erweiterten künstlerischen Residenzprojekt, das sich Poesie und Kulinarik widmet und seinen Höhepunkt am 17. April in einem einzigartigen performativen Dinner findet. Realisiert wird die Initiative des Museion Art Club mit Unterstützung der Niederländischen Botschaft in Italien und in Zusammenarbeit mit BASIS Vinschgau Venosta.

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