„Bei einer Kunstausstellung mit dem Titel Graffiti denkt man unwillkürlich an eine Ausstellungspraxis, die Graffiti in gewisser Hinsicht zu validieren versucht. Wir alle haben schon solche Ausstellungen gesehen. […] Die Wahl von Graffiti als Titel der Ausstellung war eine Lockvogeltaktik“, schreibt Ned Vena, der gemeinsam mit Leonie Radine die Ausstellung Graffiti ko-kuratiert hat. In diesem Beitrag für das Bulletin erzählt er uns, wie die Idee für die Werkschau im Museion zustande kam. Denn angefangen hat alles mit einer kleinen Ausstellung in einem New Yorker Projektraum im Sommer 2022, für die Klara Lidéns Skulpturen zu Fuß über den East Broadway getragen wurden …
Die Ausstellung trägt den Titel Graffiti. Es handelt sich um ihre zweite Ausgabe: Die erste fand unter gleichem Titel im Projektraum Public Access in der Henry Street in Lower Manhattan statt und eröffnete an einem Donnerstagabend im späten Juli 2022.
Public Access war eine winzig kleine Galerie unter der Leitung meines Freundes Leo Fitzpatrick. Leo ist Schauspieler und vor allem bekannt für seine Darstellung des Telly in Larry Clarks Film „Kids“ von 1995. Seit seinem Filmdebüt in „Kids“ hat Leo zahlreiche Auftritte in Film und Fernsehen absolviert, doch seit fast genauso langer Zeit ist er eine feste Größe in der sogenannten Kunstszene von Downtown NYC. Er hat mehrere Projekträume und Galerien geleitet und zahlreiche Ausstellungen kuratiert. Außerdem arbeitete er kollaborativ mit Künstler*innen wie Nate Lowman, Josh Smith und Dash Snow zusammen, die ihn ebenfalls zum Gegenstand ihrer Kunst machten. Leo hat umfassend über Künstler*innen geschrieben. 2012 erschien sein Band „Just Born Dead“, eine Sammlung von Gedichten und Tagebucheinträgen, bei Karma Books. Im Januar 2025 eröffnete Leo die von ihm kuratierte Ausstellung „Larry Clark 92-95“ in der Ruttkowski;68 Gallery in der Cortland Alley in Manhattan. Dies war die Wiederaufnahme einer Ausstellung von Clark, die bereits 1996 in der Galerie Luhring Augustine zu sehen gewesen war. Ein Großteil der Fotografien zeigte Skateboarder*innen an den „Brooklyn Banks“, darunter immer wieder Leo. Er stammt aus dem nahe gelegenen New Jersey und war damals beim Skaten an den Banks von Clark entdeckt worden, der ihn in seinem Film „Kids“ besetzte. Bevor sich Leo der Schauspielerei und der Kunst zuwandte, widmete er sich dem Skateboarden. Es ist ihm gelungen, eine lebendige, persönliche und sehr aktive Beziehung zu allen Menschen, Orten, Interessen und Aktivitäten seines Lebens zu bewahren, und so hat er ein einzigartiges und unverwechselbares New Yorker Werk in Verbindung mit diesen Themenkreisen hervorgebracht.
Lady Pink / Jenny Holzer, You Are Trapped on the Earth so You Will Explode, 1983-84. Mart, Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto. Deposito Eredi Alessandro Grassi. Exhibition view Graffiti, Museion 2025.
Foto: Luca Guadagnini
Leo und ich sind Berufskollegen und teilen uns ein Büro. Wir arbeiten nicht in der Kunstwelt, sprechen aber häufig über Kunst und halten uns über Ausstellungen gegenseitig auf dem Laufenden. Seine Bitte an mich, eine Schau bei Public Access zu kuratieren, kam zu einem Zeitpunkt, in dem ich mir über mein Verhältnis zum Kunstbetrieb eher unschlüssig war. Außerdem hatte ich noch nie zuvor eine Ausstellung kuratiert und war mir nicht sicher, ob ich Interesse daran hatte. Ich konnte mich nicht für ein Konzept entscheiden, das im Fokus stehen sollte; alles schien zu bemüht, zu ausgedacht oder etwas hinauszugehen über das, was nach meinem Verständnis in den Blick zu nehmen wäre.
Zudem hatte ich 2022 Abstand von der künstlerischen Arbeit im Atelier genommen. Ich habe einen Vollzeitjob. Ateliers sind teuer, NYC ist teuer. Seit Jahren hatte ich kein Kunstwerk mehr verkauft, seit fast genauso langer Zeit keine Einzelausstellung mehr. Ich hatte keine Vorstellung mehr davon, wie man ein professioneller Künstler ist, was auch immer das bedeuten soll. Für das Freisetzen meiner kreativen Energie verließ ich mich auf Graffiti. In ähnlicher Weise wie das Skateboarden für Leo war auch Graffiti für mich vor der Kunst da gewesen. Es war mein ständiger und freundlicher Begleiter in Zeiten der Abwesenheit von Kunst.
Dann erkannte ich, dass Leos Angebot eine Gelegenheit bot, sich sowohl mit Kunst als auch mit Graffiti zu befassen. Die Ausstellung „Graffiti“, wie sie sich 2022 darstellte, war ein Prototyp für jene im Museion. Sie umfasste Beiträge von 15 Künstler*innen, von denen 13 ebenfalls in der Werkschau im Museion vertreten sind. Damit die New Yorker Ausstellung zustande kam, war ich auf das Entgegenkommen und Vertrauen von Freund*innen und Galerien angewiesen. Zu sehen waren ortsspezifische Sprayarbeiten neben historischen Werken von Künstler*innen wie Rammellzee. Wir zeigten Chantal Akermans Film „News from Home“ auf einem Fernsehschirm, ohne Genehmigung der Nachlassverwaltung der Künstlerin. Maggie Lee stellte ihre Collage auf dem Galerieboden am Abend vor der Eröffnung fertig, und ich brachte Klara Lidéns Skulptur von Reena Spaulings zu Fuß die Straße hinunter. Wir schafften es, das Ganze zu organisieren, und das Konzept von „Graffiti“ fügte sich zu einer Ausstellung.
Klara Lidén, Untitled (Trashcan), 2013-2024. Exhibition view Graffiti, Museion 2025.
Foto: Luca Guadagnini
Der Titel ist nach wie vor einer ihrer wesentlichen Aspekte. Bei einer Kunstausstellung mit dem Titel Graffiti denkt man unwillkürlich an eine Ausstellungspraxis, die Graffiti in gewisser Hinsicht zu validieren versucht. Wir alle haben schon solche Ausstellungen gesehen. Sie können etwas cheesy sein. So sehr ich die dort präsentierten Werke auch liebe, fällt Graffiti doch in einen anderen Bereich als die Art des Denkens und Betrachtens als ich sie beim Nachdenken über und Betrachten von zeitgenössischer Kunst erfahren habe. Ich wollte nicht nur weg von dieser Form der Sanktionierung von Graffiti, sondern mich gleichzeitig auseinandersetzen mit der schmalzigen Weise, in der es ausgestellt wurde. Die Wahl von Graffiti als Titel der Ausstellung war eine Lockvogeltaktik. In gewissem Sinne war dies eine Kunstausstellung zu Graffiti, statt umgekehrt. Sie zog eine Menge Leute an.
Die Ausstellung Graffiti, die nun im Museion zu sehen ist, ist die gleiche, nur viel, viel größer. In Zusammenarbeit mit Leonie Radine ist es uns gelungen, über das Lückenhafte der ursprünglichen Präsentation hinauszugehen und sie zur ersten Museumsausstellung ihrer Art machen. Das Konzept bleibt intakt. Graffiti hat Graffiti zum Gegenstand, so wie jede weitere Form von Kunst sich einem Gegenstand widmen kann. Zwischen Graffiti und einer konventionelleren Ausprägung von zeitgenössischer Kunst gibt es Berührungspunkte, die harmonisch sind, aber schwer zu artikulieren. Im Museion hängt nun – zum ersten Mal – Carol Rama neben Blade an der Wand und Jutta Koether neben Wanto. Leonie ist Kuratorin und Kunsthistorikerin. Ich bin Graffiti-Writer und Künstler. Diese Ausstellung ist nur durch eine Zusammenführung dieser unterschiedlichen Backgrounds und Herangehensweisen möglich. Graffiti handelt vom Schaffen neuer und unerwarteter Zusammenhänge, und ich glaube, das beginnt mit unserer gemeinsamen kuratorischen Arbeit an der Ausstellung.
R.I.P. Germain, Silent Weapons For Quiet Wars (RA(C<->G)E), 2024. Courtesy of the artist and Cabinet Gallery London. exhibition view Graffiti, Museion 2025.
Foto: Luca Guadagnini
Ned Vena (1982, Boston, USA) ist ein in New York lebender Künstler und Archivar. Seine künstlerische Praxis, die Malerei, Skulptur, Installationen und filmische Arbeiten umfasst, ist in starkem Maße beeinflusst durch seine aktive Tätigkeit als Graffiti-Writer sowie durch seine intensiven Forschungen zur Geschichte von Graffiti. Umgekehrt ist sein Verständnis von Graffiti auch geprägt von der Geschichte der Malerei, mit der er sich eingehend beschäftigt hat. Sowohl seine persönliche Leidenschaft als auch sein interdisziplinäres archivarisches Fachwissen flossen in die Ausstellung ein.
Über die Ausstellung
Erstmals in Italien widmet sich eine Museumsausstellung der Geschichte der Sprühmalerei sowie den vielfältigen künstlerischen Überführungen von Bildsprachen der Stadt und Straße ins Atelier. Graffiti zeigt sich dabei vor allem als Sichtweise und Perspektive auf urbane Landschaften.
Bis zum 14. September