„Die Kunst ist ja da, in unserem Alltag, man muss nur üben, sie zu sehen“: Für Daniel Spoerri kann die Kunst in jeder Geste liegen, und sei sie noch so simpel, sei es ein Spaziergang, das Hören eines Songs, das Betrachten des Himmels, aber auch der Akt, sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen und zu essen. Derzeit sind die Werke des Fluxus-Künstlers in der Ausstellung über die Editionen Francesco Conz im Cubo Garutti sowie im Museion zu sehen. Laura Pernechele, Projektleiterin für Bildungsprojekte, und Mette Zannato, kuratorische Assistentin, ließen sich hiervon anregen, eine ganz besondere Marende in Zusammenarbeit mit La Rotonda Community Hub – Cooperativa Sociale OfficineVispa im Bozner Viertel Don Bosco zu organisieren. Und das ging so!
Essen ist Geselligkeit, und Geselligkeit ist Kunst – diese Botschaft scheint uns Daniel Spoerri (1930-2024) mit seinen tableaux-pièges vermitteln zu wollen. Anlässlich der Ausstellung You and The Night and the Music: Die Editionen Francesco Conz aus der Sammlung des Museion werden sie aktuell im Kleinen Museion – Cubo Garutti im Stadtteil Don Bosco gezeigt.
Mit der Werkserie seiner tableaux-pièges – in wörtlicher Übersetzung „Fallenbilder“ – versucht Spoerri, den auf eine Mahlzeit folgenden Augenblick „einzufangen“. Hierfür klebt er all das, was zurückbleibt, wenn die Gäst*innen vom Tisch aufstehen, auf dessen Oberfläche: schmutzige Teller, Brotkrümel, gefüllte Aschenbecher, leere Weingläser und zerknitterte Tischdecken. Auf diese Weise hält er die Zufälligkeit der Situation fest und würdigt die Einzigartigkeit einer jeden Mahlzeit. Die auf dem Tisch verbliebenen Überreste sind keine bloße Ansammlung von Gegenständen, sondern greifbare Erinnerung an einen Moment des Miteinander-Teilens, nicht nur des Essens, sondern auch von Geschichten, Emotionen und Erinnerungen, die die anwesenden Personen ausgetauscht haben.
Die beiden großen Leidenschaften Spoerris – Essen und Kunst – gehen in seinen Werken oft eine so enge Verbindung ein, dass er als Begründer der Eat Art gilt. Die dahinterstehende Vorstellung beschrieb er selbst als „Erkundung all dessen, was essbar ist oder essbar erscheint“. Anhand essbarer Kunstwerke, die häufig aus Brotteig gefertigt waren, und einer unermüdlichen Suche nach neuen Geschmacksrichtungen wollte Spoerri aufzeigen, dass Mahlzeiten ein untrennbares Band zwischen Kunst und Leben begründen. In seinem 1968 in Düsseldorf eröffneten Restaurant Spoerri bot er zum Beispiel ungewöhnliche Gerichte wie Ameisenomeletts, Pythonsteaks und Schlangenragout an – eine künstlerische Erfahrung, die man vor Ort verkosten konnte.
Darin lag Spoerri auf einer Linie mit der Herangehensweise und den Thematiken der Fluxus-Kunst, der er sich angenähert hatte. Es ging dem Künstler keineswegs darum, „neue Kunstwerke“ zu erschaffen, vielmehr wollte er deutlich machen, dass die Kunst „ja da“ ist, in unserem Alltag, „man muss nur üben, sie zu sehen.“ In seinen Augen kann die Kunst in jeder Geste liegen, und sei sie noch so simpel: in einem Spaziergang, im Hören eines Songs, im Betrachten des Himmels, aber auch darin, sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen und zu essen.
Um die unsichtbare Mauer einzureißen, die Kunst und Leben voneinander trennt, kann es notwendig sein, über die Grenzen der Museumsräume hinauszugehen und die Kunst in das Leben der Menschen hineinzubringen.
Aus dieser Vision heraus wurde ein Dialog zwischen dem Museion und dem im Bozner Stadtteil Don Bosco ansässigen La Rotonda Community Hub – Sozialgenossenschaft OfficineVispa initiiert. Hieraus ging das Projekt „Abitare l’arte: pratiche Fluxus al Piccolo Museion – Cubo Garutti“ (Kunst bewohnen: Fluxus-Praktiken im Kleinen Museion – Cubo Garutti) hervor, dessen Ziel es ist, Praktiken des Fluxus mit dem Leben im Viertel zu verbinden. Die erste Veranstaltung fand am 16. Mai 2025 statt und kreiste um eine „Fluxus-Marende“: Sie stand für die Nachbarschaft offen und war gedacht als ein Moment gemeinsamen Essens im Rahmen der Kunst. Eine Gelegenheit, zusammenzukommen, zu essen und die Kunst in kleinen Gesten des Alltags für sich neu zu entdecken. Die von Yoko Ono in ihrem Buch Grapefruit (1964) verfassten Anweisungen dienten uns als Anregung für ein besonderes „Menü“, das die Teilnehmenden dabei unterstützen sollte, sich auf den gegenwärtigen Moment und die Kunstfertigkeit jeder Handlung zu konzentrieren. Eine der direkt aus Onos Buch entnommenen Anweisungen lautet: „Denke darüber nach, was die Person neben dir gerade denkt.“ Eine einfache Handlung, die keine schwierigen Bewegungsabläufe erfordert, sondern nur geschärfte Aufmerksamkeit für den- oder diejenige, die neben uns sitzen. Darüber hinaus baten wir die Teilnehmer*innen, die Umrisse ihrer Teller und Gläser auf die Tischdecke zu zeichnen und hierzu ihre persönlichen Gedanken zu notieren. Hieraus ging eine kollektive Karte hervor, die an Nam June Paiks Arbeit Fluxus Island in Décollage Ocean erinnert; auch sie ist in der Ausstellung zu den Editionen Francesco Conz zu sehen, die derzeit in der Museion Passage präsentiert wird.
Die angebotenen Aktivitäten stießen auf große Resonanz und Nachfrage. Vor allem aber war es die bemerkenswerte spontane Beteiligung der Gemeinschaft selbst, die den Fluxus-Geist bei dieser Begegnung zu neuem Leben erweckte: Während die einen mit viel Liebe Focaccia, Kuchen und Snacks vorbereiteten, stellten andere Stühle um den Cubo Garutti auf oder halfen nach der Veranstaltung beim Aufräumen, einige wiederum boten sogar an, die Tischdecken zu besticken, um ihnen noch größere Bedeutsamkeit zu verleihen. Was die Grenzen zwischen Kunst und Alltag tatsächlich aber aufgehoben hat, waren die Gesten der Fürsorge, die in aufrichtiger und ehrlicher Weise zwischen all jenen, die an dem Event teilnahmen, gezeigt wurden.
Diese Begegnung bildete den Auftakt zu einer Reihe von Veranstaltungen, die den Bewohner*innen des Stadtviertels Zugang zur Fluxus-Kunst eröffnen sollen. Zugleich bieten sie Anlass, die Kunst in ihrer geselligsten Form zu erfahren und außerhalb der musealen Räume über Kunst zu sprechen – vor allem aber dazu, einfach nur zusammenzukommen.
Denn wie Spoerri uns lehrt, ist Kunst auch Geselligkeit, Alltag und Essen.
Die Ausstellung You and The Night and the Music: Die Editionen Francesco Conz aus der Sammlung des Museion erkundet das kulturelle Vermächtnis und die künstlerische Vision von Francesco Conz anhand der eigenen Bestände. Der Sammler wirkte im Spannungsfeld von Fluxus und visueller sowie konkreter Poesie und trug maßgeblich zur Verbreitung dieser künstlerischen Praktiken im In- und Ausland bei.
Museion Passage, freier Eintritt. Bis zum 31.01.2026
Cubo Garutti, Sassaristraße 17/b, Bozen. Bis zum 31.01.2026