Bulletin #17

„Wenn sie nicht verrückt sind, dann wollen wir sie nicht“

Die Brunnenburg, Francesco Conz und die Verbindung zu Ezra Pound

von Museion Bulletin editorial team: Elena Bini, Caterina Longo, Mara Vicino
Mary de Rachewiltz mit ihrem Sohn Siegfried de Rachewiltz

„Erwarten Sie nichts Lineares, eher Erinnerungsblitze“, sagt Siegfried de Rachewiltz. Der Raum in der Brunnenburg wird gesäumt von Büchern. Auf der linken Seite öffnet sich ein Triforiumfenster und gibt zwischen seinen Säulen hindurch den Blick auf den grünen Meraner Talkessel frei. Auf einem bespannten Lehnsessel mit beigem Stoffbezug und an den Seiten nach außen geschwungener Rückenlehne sitzt Mary de Rachewiltz, die am 9. Juli hundert Jahre alt wird. Sie trägt einen kobaltblauen Reif auf ihrem langen, perlweißen Haar und empfängt uns mit ebenso energischem wie höflichem Gestus – sie versteht es, einem die Befangenheit zu nehmen, lässt uns die Aura dieses Ortes vergessen, an dem ihr Vater, der Dichter Ezra Pound, von 1958 bis 1962 vier Jahre lang gelebt hatte. Es ist nicht schwer sich auszumalen, warum gut zwanzig Jahre später der Sammler und Verleger Francesco Conz die Brunnenburg gewählt hat, um dort seine künstlerischen Residenzen zu veranstalten. Aus ihnen sollte dann La Livre hervorgehen – sein monumentales und spektakuläres Projekt, das als kollektives Künstler*innenbuch, als eine Hommage an Pound und seine Cantos angelegt war. Erst nach Conz’ Tod wurde La Livre fertiggestellt und vor Kurzem (in einer Edition mit 11 Kassetten) herausgebracht. Derzeit wird das Werk erstmals in der Museion Passage ausgestellt. „Die Vorstellungen über meinen Vater lagen stets in der Luft“, lächelt Mary de Rachewiltz, und da verstehen wir, dass diese außergewöhnliche Erfahrung, in der Brunnenburg zu leben, mit Persönlichkeiten, die Kunst- und Literaturgeschichte geschrieben haben, für sie eine ganz alltägliche war.

Mit diesem Beitrag möchte das Museion den 100. Geburtstag von Mary de Rachewiltz feiern, die am 9. Juli 1925 geboren wurde, und ihr zu ihrem unglaublichen Leben und ihrem Beitrag zur Kunstgemeinschaft und darüber hinaus gratulieren.

Gab es denn einen bestimmten Moment, in dem die Idee entstand, La Livre gemeinsam mit Francesco Conz zu initiieren?

Siegfried de Rachewiltz: Conz hatte Kontakt zu uns aufgenommen, hatte Briefe an meine Mutter und danach an mich geschrieben. Alles nahm seinen Anfang mit der Performance von Daniel Spoerri und seinen Suppen (Zehn Suppenrezepte, 1985), in deren Rahmen mehrere Damen aus dem Meraner Umkreis und meine Frau die Rezepte zubereiteten. Es nahmen über hundert Personen daran teil, anschließend signierte Spoerri, wie Sie ja wissen, die Tischdecke mit den Überresten der Mahlzeiten und schenkte sie meiner Frau. Und schließlich war da noch dieser etwas verrückte Gitarrist und Performer, Giuseppe Desiato: Er spielte die ganze Nacht hindurch, und als der edle Tropfen Wirkung zeigte, ging eine Gruppe von Gästen hinunter nach Meran und brachte ein wenig Wirbel in die Stadt.

Haben denn diese künstlerischen Invasionen nicht Unruhe an einen Ort gebracht wie diesen, der aufgeladen ist mit Geschichte und Stille?

Mary De Rachewiltz: Nein, wir waren ja auch jung! Wir hatten unterhaltsame Leute hier, langweilig war es nicht.

SDR: Naja, sagen wir mal, wir waren noch jünger (lächelt, Anm. d. Red.). Es gab hier eine Redensart: „Wenn sie nicht verrückt sind, dann wollen wir sie nicht“ – das war das Motto, der Spruch, der am Eingang geschrieben stand und in humoristischem Sinne gemeint war. Die Erfahrung mit Conz, das war ja keine einmalige Sache, sondern die Fortführung eines Lebensstils, den meine Mutter und mein Vater (Mary und Boris de Rachewiltz, Anm. d. Red.) gepflegt haben, seitdem sie hier eingezogen waren.

Als Conz Ihnen eine Performance von Dick Higgins vorschlug – sie hätte darin bestanden, ein Klavier auf der Burgterrasse in Brand zu stecken –, da lehnten Sie jedoch ab.

SDR: Ja, das stimmt … Ich veranstalte hier ein Cello-Festival und besitze eine gewisse Hochachtung vor Musikinstrumenten, und da erschien mir diese Performance doch leicht übertrieben!

Brunnenburg, Tirol

Noch einmal zu dem „Lebensstil“, den Mary De Rachewiltz und ihr Ehemann Boris, also Ihr Vater, in der Brunnenburg gepflegt haben: In den 1950er- und 1960er-Jahren erlebte Meran bekanntlich eine Blütezeit – in kultureller wie in künstlerischer Hinsicht.

SDR: Es gab da diese Renaissance, diese Aufbruchstimmung in Meran, es war die Zeit, von der später in Luigi Serravallis Buch „A Merano in attesa di Ezra Pound“ erzählt wurde. Wir hofften darauf, dass der Großvater nun endlich am Horizont auftauchen würde, wir hatten ihn ja nie persönlich kennengelernt, er war für mich und meine Schwester bloß eine Briefbekanntschaft. Derweil brachte aber Giovanni (Vanni) Scheiwiller die Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die er in der von ihm verlegten Buchreihe „All’insegna del Pesce d’Oro“ veröffentlichte, hierher. Sogar Quasimodo hielt sich in diesen Mauern auf, bevor er den Literaturnobelpreis erhielt.

Da versteht man, warum Conz von der Brunnenburg fasziniert war…

SDR: Hier war einiges in Bewegung, weshalb Conz, der ein gutes Gespür besaß, vermutlich dachte, dies wäre ein guter Ort, um Projekte gemeinsam mit Künstlern und Künstlerinnen durchzuführen.

MDR: Ja, wir hatten eine ganze Parade von Leuten hier mit seltsamen Ideen … (lacht, Anm. d. Red.)

Und dann war da noch die Faszination, die Pounds Schaffen auf Conz ausübte – durch seine experimentelle Herangehensweise an Sprache. Es war kein Zufall, dass die eingeladenen Künstler und Künstlerinnen aus dem Umkreis der Strömungen von visueller und konkreter Poesie kamen. Insofern war die Burg der ideale Ort in einem Umfeld wie Südtirol zu jener Zeit.

SDR: Ich wüsste auch nicht, wo er ansonsten hätte hingehen können mit solchen Ideen … Man muss ja die damalige Zeit mitbedenken. Das stimmt, was Sie da sagen, dass Conz echte Bewunderung besonders für den ikonoklastischen und experimentellen Aspekt von Pounds Schaffen hegte, denn dieser hatte seiner Meinung nach die Figur des Dichters und Künstlers begründet, der imstande ist, etwas zu verändern. Conz wollte eine kraftvolle und starke Kunst, die Wirkung hat im Sinne einer konstruktiven Anarchie, um bestimmte überkommene oder allzu bequeme und bürgerliche Denkmuster zu durchbrechen – épater le bourgeois, um die Bourgeoisie zu schockieren, der Conz ja ebenfalls angehörte. Dies aber stets in spielerischer, scherzhafter Weise: Es kamen ihm bestimmte Dinge in den Sinn, und indem er sie kombinierte, entstand daraus etwas, das absurdes Theater sein konnte.

Dann waren das also spontane Zusammenführungen?

SDR: Was Conz betrifft, so glaube ich, dass er genau wusste, was er da tat. Er kannte diese Welt besser als jede andere Person und wusste, wen er einladen wollte. Ich erinnere mich, dass er mir auf der Burgterrasse einmal eine Auflistung all der Künstler und Künstlerinnen nannte, die er hierherbringen wollte…

Das Museion-Team besucht Mary de Rachewiltz

Aus den Fotos und Erzählungen geht hervor, wie stark das Band des Miteinanders, wie wichtig das Zusammenkommen war.

Wissen Sie, es gab da nie ein Gefühl des Zeitdrucks oder ein zu absolvierendes Programm, man sagte einfach: Lasst uns doch einmal diese Künstler und Künstlerinnen zusammenbringen, und dann sehen wir, was passiert … Es war nicht etwas Bestimmtes vorausgeplant, man führte einfach die Energien zusammen und ließ sie sich in spontaner Weise entwickeln, während man Aussicht und Landschaft genoss. Der Ort selbst inspiriert und regt auch zur Muße an, nach meinem Eindruck waren die Dinge im Fluss, entfalteten sich hier, und dabei passierte etwas, ohne dass es einen vorher festgelegten Ablauf gab.

Eine echte Fluxus-Erfahrung.

Ich glaube, Conz war in der Lage, all seinen Künstlern und Künstlerinnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie Teil einer Welt waren und dass so oder so eine ganz eigene Sphäre entstehen würde, unabhängig von dem Ort, an dem sie zusammenkamen. Und dieses Gefühl – quasi so, als reiste man durch Raum und Zeit – verband Menschen aus Brasilien, den Vereinigten Staaten oder den slawischen Ländern usw. miteinander.

War es ein Mikrokosmos?

Ein Stamm, the tribe. Ein Stamm von Künstlern und Künstlerinnen.

Um auf die Performance mit Spoerris Suppen zurückzukommen: Schmeckten sie denn?

Ja, ja, die Rezepte waren alle sehr gut, ich erinnere mich, dass ich einige probiert habe, und wir haben sie alle aufgegessen, haben die Teller ausgekratzt …

Mary de Rachewiltz

Die bei Meran gelegene Brunnenburg (Castel Fontana) (Link https://www.brunnenburg.net/de/) beherbergt das Südtiroler Landwirtschaftsmuseum sowie eine Gedächtnisstätte für Ezra Pound. Darüber hinaus finden dort internationale Tagungen und Residenzen zum Wirken des Dichters sowie musikalische Veranstaltungen statt. Das Museum ist von April bis Oktober zu besichtigen.

Die Ausstellung You and The Night and the Music: Die Editionen Francesco Conz aus der Sammlung des Museion erkundet das kulturelle Vermächtnis und die künstlerische Vision von Francesco Conz anhand der eigenen Bestände. Der Sammler wirkte im Spannungsfeld von Fluxus und visueller sowie konkreter Poesie und trug maßgeblich zur Verbreitung dieser künstlerischen Praktiken im In- und Ausland bei.

Museion Passage, Eintritt frei. Bis zum 31.01.2026

Bulletin 2025