„Erwarten Sie nichts Lineares, eher Erinnerungsblitze“, sagt Siegfried de Rachewiltz. Der Raum in der Brunnenburg wird gesäumt von Büchern. Auf der linken Seite öffnet sich ein Triforiumfenster und gibt zwischen seinen Säulen hindurch den Blick auf den grünen Meraner Talkessel frei. Auf einem bespannten Lehnsessel mit beigem Stoffbezug und an den Seiten nach außen geschwungener Rückenlehne sitzt Mary de Rachewiltz, die am 9. Juli hundert Jahre alt wird. Sie trägt einen kobaltblauen Reif auf ihrem langen, perlweißen Haar und empfängt uns mit ebenso energischem wie höflichem Gestus – sie versteht es, einem die Befangenheit zu nehmen, lässt uns die Aura dieses Ortes vergessen, an dem ihr Vater, der Dichter Ezra Pound, von 1958 bis 1962 vier Jahre lang gelebt hatte. Es ist nicht schwer sich auszumalen, warum gut zwanzig Jahre später der Sammler und Verleger Francesco Conz die Brunnenburg gewählt hat, um dort seine künstlerischen Residenzen zu veranstalten. Aus ihnen sollte dann La Livre hervorgehen – sein monumentales und spektakuläres Projekt, das als kollektives Künstler*innenbuch, als eine Hommage an Pound und seine Cantos angelegt war. Erst nach Conz’ Tod wurde La Livre fertiggestellt und vor Kurzem (in einer Edition mit 11 Kassetten) herausgebracht. Derzeit wird das Werk erstmals in der Museion Passage ausgestellt. „Die Vorstellungen über meinen Vater lagen stets in der Luft“, lächelt Mary de Rachewiltz, und da verstehen wir, dass diese außergewöhnliche Erfahrung, in der Brunnenburg zu leben, mit Persönlichkeiten, die Kunst- und Literaturgeschichte geschrieben haben, für sie eine ganz alltägliche war.
Mit diesem Beitrag möchte das Museion den 100. Geburtstag von Mary de Rachewiltz feiern, die am 9. Juli 1925 geboren wurde, und ihr zu ihrem unglaublichen Leben und ihrem Beitrag zur Kunstgemeinschaft und darüber hinaus gratulieren.