Bulletin #19

Morbid: das von Verfall gezeichnete und geschwungene Weibliche bei Valeria Magli

von Caterina Molteni
#Female Artists
Porträt von Valeria Magli.  Foto: Mario Ventimiglia

Den Begriff „morbid“ wählte Valeria Magli, um die einander entgegengesetzten und widersprüchlichen Kräfte zu beschreiben, die der Figur der Frau im Lauf der Jahrhunderte zugewiesen wurden: Einerseits galt sie als verführerisch, liebevoll und zärtlich, andererseits war sie aber auch Gegenstand obsessiven, gewaltsamen und tödlichen Verlangens anderer. Magli ist eine ebenso exzentrische wie innovative Künstlerin und spürte in ihrem Schaffen der Verbindung zwischen Körper, Geste, Bewegung und Wort nach. Dabei stand sie im Austausch mit Vertreter*innen der Neoavanguardia und der experimentellen Poesie wie etwa Arrigo Lora Totino und Nanni Balestrini, die beide in der Sammlung des Museion im Bereich des Archivio di Nuova Scrittura vertreten sind.
Der hier vorliegende vertiefende Text von Caterina Molteni entstand im Rahmen der 13. Ausgabe des Italian Council, wobei das Museion als Kulturpartner von Moltenis Forschungsprojekt auftrat. Der Text leistet einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Rolle der Frau sowie zu Erkundungen von Wort und Bild, die das Museion bereits seit Längerem in den Blick genommen hat. Gleichzeitig schließt das Konzept von „Morbid“ an THE SOFTEST HARD an, die Themenlinie des Museion für das Jahr 2025, die gewaltlosen Formen des Widerstands und einer sanften Radikalität gewidmet ist.

Valeria Magli hat einen besonderen Begriff gewählt, um die Figur des Weiblichen zu beschreiben: morbid. Das aus dem Deutschen übernommene Wort hat dort die Bedeutung „von Verfall gezeichnet“, verweist im Italienischen aufgrund seiner klanglichen Assonanz aber auch auf die Begriffe „morbidezza“ (Weichheit) und „sinuoso“ (geschwungen). Der Begriff morbid bezeichnet somit ein dichotomisches Nebeneinander gegensätzlicher Kräfte, die das Bild der Frau im Laufe der Jahrhunderte bestimmt haben. Einerseits galt sie als verführerisch, liebevoll und zärtlich, andererseits war sie aber auch Gegenstand obsessiven, gewaltsamen und tödlichen Verlangens anderer.

Der Begriff kehrt wieder im Titel der Ausstellung Valeria Magli. MORBID, die vom 29. Januar bis zum 11. Mai 2025 im MAMbo – Museo d’Arte Moderna di Bologna zu sehen war. Morbid bietet einen Schlüssel zum Verständnis dieser exzentrischen und einzigartigen Persönlichkeit der italienischen Kunstszene und eröffnet uns einen Zugang zu ihrem Werk.

Ansicht der Ausstellung Valeria Magli. MORBID, MAMbo – Museum für moderne Kunst in Bologna, 29. Februar bis 11. Mai 2025. Foto: Carlo Favero

Valeria Magli wurde 1953 in Bologna geboren und war ein lebhaftes, aber sehr schüchternes Mädchen. Die Eltern vermittelten ihr eine umfassende kreative Erziehung, die neben Klavierstunden und Ballettunterricht auch den Schwimmsport und Kunstturnen umfassten. Die Künstlerin berichtet, dass die Vorstellung von einer „Körperkultur“, die sich parallel zu einer künstlerischen und intellektuellen Kultur entwickelte, von grundlegender Bedeutung für ihre Ausbildung war. Während ihrer Studienzeit – Magli schloss ihr Studium der Philosophie bei Luciano Anceschi ab – näherte sie sich der feministischen Bewegung an. Diese Erfahrung nutzte die Künstlerin im Sinne einer „Folie“ und deutete sie nicht nur, sondern „bildete“ sie in in Darbietungen und Tanzaktionen nach. 1978 äußerte sie sich so: „Die Ideologie [des Weiblichen] diente mir zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einem bestimmten Umfeld zur Kritik an bestehenden Modellen, doch ist es nicht meine Absicht, sie in Darbietungen miteinzubeziehen, wo der Inhalt stärkere Wirkung entfalten kann, wenn er durch eine poetische Form gefiltert und über inszenatorische Regeln vermittelt wird.“[1]

Das Ende der 1970er-Jahre stand in Zeichen der Begegnung mit Vertreter*innen der italienischen Literaturbewegung Neoavanguardia sowie der Welt der experimentellen Dichtung. In dieser Zeit kam es zu Kooperationen mit Arrigo Lora Totino und Nanni Balestrini. In Zusammenarbeit mit Ersterem, einem Pionier der Lautpoesie, entstand die von pantomimischen Darbietungen der historischen Avantgarde angeregte Arbeit Futura. Mit dem Schriftsteller und Dichter Nanni Balestrini verband Valeria Magli eine intensive künstlerische Beziehung.

Im Bereich der sogenannten „totalen Dichtung“ – sie umfasst die Gesamtheit formaler und konzeptueller Herangehensweisen, die in den 1960er- und 1970er-Jahren dafür gesorgt haben, dass die Dichtung aus der Buchseite hervorgetreten ist und sich für den Bereich des Konkret-Visuellen, des Akustischen und Performativen öffnete – beschäftigt sich Valeria Magli mit der Beziehung zwischen Körper, Geste, Bewegung und Wort. Diese höchst innovative Arbeit wird von der Künstlerin auch als „poesia ballerina“ (Tanzpoesie) bezeichnet.[2]

Unter den Werken, die Eingang in die erste anthologische Präsentation der Künstlerin gefunden haben und (unter dem Titel Poesia ballerina) im Teatro di Porta Romana aufgeführt wurden, bietet das Stück Banana morbid einen privilegierten Zugang zum formalen und poetischen Universum Maglis.

Banana morbid, 1980. Foto: Rina Aprile

Banana morbid

Banana morbid[3] wurde 1980 konzipiert und thematisiert die zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen angelegte Spannung, die bereits im Titel in ironischer Weise anklingt: „Banana“ verweist auf die phallische Härte, während der Begriff „morbid“ in seiner Doppelbedeutung die Widersprüche der weiblichen Figur in sich verkörpert.

Im Rückblick auf die Entstehung dieses Werkes erzählt Valeria Magli, dass ihre Faszination für den Begriff „morbid“ auf mehrere Gespräche mit einem befreundeten Antiquar zurückgeht. Er hatte ihr erklärt, dass dieser Begriff zur Beschreibung der deutschen Ausprägung des Jugendstils Verwendung fand.

In diesem Zusammenhang hatte „morbid“ die Bedeutung „von Verfall gezeichnet“ – der Dekadenz erlegen und dem Reiz dessen, was zwischen Eros und Tod in der Schwebe bleibt. Tatsächlich war die Ästhetik dieser Zeit geprägt von einer doppelbödigen Spannung: zum einen eine zarte und idealisierte Erotik, festzumachen nicht nur an der Wahl weiblicher Sujets, die mit majestätischer Eleganz wiedergegeben wurden, sondern ebenfalls an dekorativen Motiven, bestimmt von geschwungenen, dem Vorbild der Natur nachempfundenen Linien; zum anderen aber auch der Fokus auf eine Schönheit, erfüllt von Fragilität und der Tendenz zur Auflösung. Es ist kein Zufall, dass Arthur C. Danto dieses Nebeneinander in seiner Beschreibung von Gustav Klimts Der Kuss betont: „[…] daß es auffällt, welchen beinahe morbiden Kontrast das Fleisch von Klimts Frauen zu den es umgebenden Stoffen, Steinen und Metallen bildet. Es ist blutleer und fast schon nekrotisch. […] seine Figuren streben den Zustand des Ornamentalen an. Sie erleben eine durchgreifende Wandlung, durch die sie schließlich zu etwas werden, das jenseits von Leben, Sehnsucht und Vergänglichkeit liegt. Es sei darauf hingewiesen, dass auch Danto den Begriff „morbidly“ benutzt, der im Englischen auf dieselbe sprachliche Wurzel zurückgeht wie das deutsche Wort „morbid“.“[5]

Banana morbid, 1981. Foto: Fabrizio Garghetti

Diese Dekadenz, die sich hinter der Schönheit des weiblichen Körpers verbirgt, inszeniert Maglis Stück in völlig unerwarteter Weise. Banana morbid ist in Form eines umgekehrten Striptease angelegt und eröffnet mit dem Auftritt der Künstlerin, die lediglich mit einem leichten rosa Schleier bekleidet auf der Bühne steht.[6] Zur atonalen Musik von John Cage führt Magli eine Stepptanz-Choreografie auf, erweitert sie durch Bewegungen, Anspielungen und Posen, die von Soubretten inspiriert sind und eine Enthüllung anzukündigen scheinen. Doch dazu kommt es nicht – im Gegenteil, in den Mittelpunkt des Geschehens tritt vielmehr der Akt des Ankleidens. Die verschiedenen Bestandteile des von Cinzia Ruggeri entworfenen Gewandes werden nach und nach angelegt, bedecken zunehmend den Körper und unterlaufen so die Erwartungen des männlichen Blicks, der die Frau auf ein Objekt reduziert.

Als Magli während der Vorbereitung der Ausstellung das Kostüm betrachtete, stellte sie fest, dass die Farbgebung seiner unterschiedlichen Schichten die „Lebensalter“ der Frau und deren unaufhaltsames Fortschreiten evozieren: Rosa steht für den kindlichen, noch unberührten Körper, Rot für leidenschaftliche Liebe, Violett und Schwarz für Alter und Tod.[7]

Die Protagonistin von Banana morbid unterstreicht gewissermaßen die Morbidität des männlichen Blicks und spielt zugleich mit ihr, indem sie deren widersprüchliche „Weichheit“ aufzeigt und damit die Künstlichkeit einer jeden Idealisierung weiblicher Schönheit.

Valeria Magli tut dies stets mit frecher Ironie – kultiviert und raffiniert. Doch versteht sie es, sich gleichermaßen mit der Avantgarde auszutauschen und die frappierende Direktheit des Kneipenscherzes für sich zu nutzen, der ohne große Umstände mit Essen und Sex spielt.[8]

Caterina Molteni

Der Text ist Teil des von Caterina Molteni unternommenen Forschungsprojekts „From Poetry to Performance and Vice Versa: When Body and Language Become Political. A comparative study of Valeria Magli, Yvonne Rainer, Cecilia Vicuña“, das von der Generaldirektion für zeitgenössische Kreativität des Italienischen Kultusministeriums im Rahmen des Programms Italian Council (13. Ausgabe, 2024) gefördert wurde.

Caterina Molteni ist Kuratorin am MAMbo – Museo d’Arte Moderna di Bologna. In ihrer Forschung befasst sie sich mit den Beziehungen zwischen bildender Kunst, Dichtung und Performance unter besonderer Berücksichtigung ihrer politischen Tragweite. 2024/25 erhielt sie ein Library Research Grant des Getty Research Institute und gehörte zu den Gewinnerinnen des Italian Council 13. Von 2016 bis 2019 war Molteni am Castello di Rivoli Museo d’Arte Contemporanea in Rivoli und Turin tätig und von 2014 bis 2019 Mitbegründerin und Co-Direktorin des Tile Project Space, einem in Mailand ansässigen Offspace für italienische Kunst.

[1] Valeria Magli, Valeria Magli, in: „Scena“, 1978.

[2] Poesia ballerina. Azioni su testi poetici danzate da Valeria Magli lautet der Titel der ersten anthologischen Aufführung von Werken Valeria Maglis, die 1980 im Teatro di Porta Romana zu sehen waren. Dieser Titel, so berichtet die Künstlerin, wurde quasi aus der Not heraus geboren (da der Abend einen eigenständigen Namen tragen sollte, ohne Bezugnahme auf die drei aufgeführten Stücke); er steht in Kontinuität zu den vielfältigen Formfindungen, die die Dichtkunst in den vorausgegangenen Jahrzehnten erfahren hat – klanglichen, phonetischen, visuellen, konkreten –, und ist im Laufe der Zeit zu einem Konzeptkern ihrer Arbeit geworden, zu einer Bezeichnung, die heute untrennbar mit ihrer künstlerischen Forschung verknüpft wird.

[3] Banana morbid, 1980, Gesang und Tanz: Valeria Magli, Text: Nanni Balestrini, Kostümgestaltung und Bühnenbild: Cinzia Ruggeri, Musik: John Cage, Choreografie: Umberto Gallone, Regie: Lorenzo Vitalone.

[4] Es sei darauf hingewiesen, dass auch Danto den Begriff „morbidly“ benutzt, der im Englischen auf dieselbe sprachliche Wurzel zurückgeht wie das deutsche Wort „morbid“.

[5] Arthur C. Danto, „Vienna 1900“, in: Encounters & reflections: art in the historical present, The Noonday Press, New York 1991, S. 36–42

[6] Diese Art der Gewandung sollte den Theaterzuschauer*innen den Eindruck eines fast unbekleideten Körpers vermitteln.

[7] Das von Cinzia Ruggeri entworfene und angefertigte Kostüm besteht aus sechs übereinanderliegenden Schichten, die sich jeweils durch eine Farbe auszeichnen: Rosa, Rot, Gelb, Blau, Violett und Schwarz. Ein signifikantes Detail betrifft den rechten Ärmel, der sich im Gegensatz zu den restlichen Bestandteilen des Gewandes nicht verlängert, sondern immer weiter verkürzt: Die erste Schicht – in Rosa – bedeckt den gesamten Arm, während die letzte, schwarze Schicht knapp den Ellbogen bedeckt. Am Ende der Darbietung trägt Magli sämtliche Farben und hat sich somit jede Lebensphase anverwandelt.

[8] In dem mit Artribune geführten Interview „Monologhi al telefono“ (Monologe am Telefon) spricht Valeria Magli über ihre „bolognesità“, die Verbundenheit mit Bologna, und den unverkennbar ironischen Tenor ihrer Arbeit.

Bulletin 2025