Bulletin 2023.3

Jeff Preiss erzählt von Dan Graham: die Jahre in der ORCHARD Galerie

von Jeff Preiss
Jeff Preiss in Dan Graham’s Sonic Youth Pavilion, Museion, 2023. Foto: Daniele Fiorentino

Anlässlich der Vorführung einer Auswahl von Filmen von Jeff Preiss im Rahmen der von Saim Demircan kuratierten Ausstellung Time Frame (09.06. – 03.03.2023) haben wir ihn gebeten, mit uns einige Erinnerungen an den Künstler Dan Graham zu teilen. Der Sonic Youth Pavillon von Dan Graham, der zur Sammlung des Museion gehört, war der Rahmen, in dem die Filme vorgeführt wurden. Die Filme von Jeff Preiss entstanden während seines Aufenthalts in der Orchard Gallery in New York, mit der Dan Graham ebenfalls befreundet war und die er unterstützte.

Dan Graham begegnete ich erstmals vor etwa 30 Jahren.

Meine damalige Partnerin Rebecca Quaytman war von der Marion Goodman Gallery als seine Assistentin eingestellt worden. Die Situation erwies sich insofern als etwas kurios, als Dan auf Reisen in Europa war und kein Datum für seine Rückkehr feststand. Es gab faktisch keine Möglichkeit, ihn zu erreichen, und er hatte wochenlang nichts von sich hören lassen. Weitere Wochen vergingen, und wir machten uns zunehmend Sorgen, als er eines Tages einfach auftauchte, und alles Weitere erschien ab da unausweichlich.

Mit Dan befreundet zu sein, beinhaltete zwangsläufig auch ein wiederholtes Eintauchen in sein Weltbild, das er mit stakkatoartigem Wortschwall zum Ausdruck brachte, bis man selbst zu einem Knotenpunkt in seiner Matrix wurde. Zu guter Letzt sah man sich in der Konstellation widergespiegelt und erkannte, dass man für ihre Vollständigkeit unabdingbar war. Dabei erfolgte die Einordnung des oder der Einzelnen sowie die Herstellung von Beziehungen zwischen ihnen selbstverständlich in Form der Astrologie. Dans Meisterschaft bei der Nachvollziehung von Querverbindungen, die scheinbar jeden und jede einbezogen, war erstaunlich.

Mir gegenüber bestand er darauf, dass sich mein Sternzeichen nicht von meinem offiziellen Geburtstag herleite, und anstatt ihm zu widersprechen, begann ich, mich als Jungfrau auszugeben, um seiner Deutung meiner Persönlichkeit nachzukommen.

Im Jahr 2005 gründeten Rebecca und ich zusammen mit zehn weiteren Freund*innen die Galerie ORCHARD. Über einen Zeitraum von drei Jahren war sie teils Reaktion auf die Wiederwahl eines Kriegsverbrechers zum [US-]Präsidenten, teils verdeckte Operation im Sinne der Institutionskritik und teils gesellschaftlicher Mittelpunkt für die erweiterte Familie, als deren Patriarch Dan fungierte.

Zur Eröffnung zeigte ORCHARD eine Produktion von Dans unrealisiertem Project for Slide Projector (1966), das wegweisend für seine später konzipierten Pavillons war und sie vorwegnahm.

In seiner ursprünglichen Form bestand es aus einer Reihe von Anweisungen für das Fotografieren vier ineinanderstellbarer Glaswürfel auf 35-mm-Diafilm. Nach dem Ablichten des ersten Würfels von allen vier Seiten wurde ein weiterer gläserner Würfel in ihn hineingestellt und so fortgefahren, wobei das reflektierte Bild (des Fotografen und des Galerieraums von ORCHARD) vervielfältigt und gebrochen wurde.

Dies markierte den Beginn des dreijährigen Programms von ORCHARD, und durch die Schenkung des Werkes zur Herausgabe als Edition diente dieses zugleich unserem finanziellen Rückhalt.

Dan war allgegenwärtig.

Vor der Unterzeichnung des Mietvertrags für das in der Orchard Street 47 gelegene Ladenlokal plante ich die Realisierung einer Reihe von Filmen im Galerieraum als Studio. Im vergangenen Juni lud mich das MUSEION ein, meine ORCHARD Documents auf den Monitoren in Dans Sonic Youth Pavilion zu zeigen, der sich in der öffentlich zugänglichen Passage des Museums befindet.

Für mich bestand kein Zweifel daran, dass dies bestmögliche Kontext für ihre Präsentation war.

Nach der Installation der Filmreihe (der erste Film dokumentierte die Reinszenierung von Dans Diaarbeit) führte das Hin- und Herspringen kaleidoskopischer Reflexionen des Pavillons zwischen den Monitoren zu einem Aha-Erlebnis bei mir: Praktisch alles, was ich als die Mechanik der Filmsprache ansehe, lässt sich anhand von Dans zyklischer Abarbeitung an innen/außen, du/ich, heute/damals und des Sich-selbst-beim-Sehen-Zusehens demonstrieren.

Wie immer hat Dan es auf den Punkt gebracht.

Ihm zu widersprechen, barg bekanntlich Gefahren, doch erlaubte unsere Freundschaft auf irgendeine Weise das Tolerieren größerer geschmacklicher Unterschiede, als ich ihm zunächst zugetraut hatte (ich war ebenso stolz wie erstaunt, als er mich bat, eine Playlist aus meiner zuvor von ihm abgelehnten Musiksammlung zusammenzustellen). Erst vor Kurzem verstand ich endlich, in welcher Hinsicht unsere Perspektiven eng zusammenfallen: Wir sind beide in der Vorstadt aufgewachsen … und haben ein Interesse an der entkörperten Psyche, … wobei Dans Reflexionen und der cineastische Film als vergleichbare Projektionen des Selbst fungieren können.

Wenn die bewegten Bilder im Pavillon Dan in der ORCHARD Gallery zeigen, so schließt sich der Kreis in wörtlichem Sinne. Indem der Pavillon das Bild der Galerie zurückwirft, erfüllt er das ihm von Dan zugedachte Programm: Er sollte ein Spiegelkabinett sein, ein Ort für Jugendliche und eine Fotogelegenheit für Eltern (wie mich).

Während eines Interviews mit einem gemeinsamen alten Freund, Michael Smith, kam die Rede auch auf eine bestimmte Lesart von Dans Pavillons, wonach diese als „soziologische Kritik der Entfremdung“ zu deuten wären. Dan antwortete schlicht und einfach: „Es ist genau das Gegenteil.“ Er verstand sie als Argument für sozialen Zusammenhalt und als dessen Vergrößerungsglas.

Bulletin 2023

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