Eine Ausstellung besuchen und aus dem Bauch heraus von ihr erzählen: Genau das haben sich Anna Katrina Böger, Marta Ferrarini, Maria Hafner, Nadia Kasslatter, Paola Occhiali und Giacomo Pomelli im Museion mit den Werken der Ausstellung RENAISSANCE vorgenommen. Verfasst wurden die Texte im Rahmen des Workshops „Writing for art and cultural institutions“, der unter der Leitung von Stefano Riba während der Spring School 2024 im Studiengang Kommunikations- und Kulturwissenschaften an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Bozen abgehalten wurde.
In der aktuellen Ausgabe des Museion Bulletin haben wir die jungen Stimmen versammelt und zusammentragen.
„In unserer Generation – und ich schließe mich da selbst mit ein – halten wir gerne alles, was wir tun, in Bildern fest: vom täglichen BeReal-Foto über das komplizierte Muster auf dem Schaum unseres morgendlichen Cappuccinos bis hin zur nächtlichen Lernsession in der Bibliothek. Und natürlich posten wir am Ende des Monats eine Collage unserer Instagram-Storys, um allen vor Augen zu stellen, was wir in dieser Zeit getan, erreicht und erlebt haben. Doch können wir nicht auch anders leben? Ist unsere Identität denn unauflöslich an Beweisfotos geknüpft? Waren wir tatsächlich auf dieser Veranstaltung, wenn es nicht mindestens 20 Fotos von uns in 11 verschiedenen unnatürlichen Posen gibt, die das belegen?
Wir neigen dazu, zu vergessen, dass wir auch einfach im Moment leben können, ohne dass sich später ein Beweis dafür in unserem Bilder-Ordner findet – oder vielmehr vor sich hingammelt. Wenn wir aber unbedingt einen Schnappschuss von der coolen neuen Bar machen müssen, die wir letztes Wochenende entdeckt haben, dann sollten wir es doch zumindest wie Jim C. Nedd halten und etwas mehr Zurückhaltung an den Tag legen“.
Maria Hafner
„‚Suite for Suit‘, von Davide Stucchi, im Jahr 2023 komponiert. Ein gut gewählter Titel, denn man stellt sich unwillkürlich vor, die Socken wären der einzige ‚Anzug‘, den ein*e Klavierspieler*in tragen würde. Genau das ist nämlich Kunst, sie geht hinaus über die Darstellung, sie hat eine eigene Aura, die ich in dem Augenblick, wenn ich vor dem in einen neuen Kontext gebrachten Klavierhocker stehe, voll und ganz genieße. Kunst lässt mich als Betrachterin mehr denken als einfach nur ‚wow, ist das schön‘, sie lässt mich ebenfalls über die Frage nachdenken, warum Musiker*innen überhaupt eine Abendgarderobe tragen müssen, wenn sie eine Suite vor Publikum spielen? Weitere Fragen, die sich mir in diesem Zusammenhang aufdrängen, lauten: Was hat den Künstler dazu bewogen, diese Elemente miteinander zu kombinieren? Wie lautet die eigentliche Botschaft, die dahintersteht?“
Nadia Kasslatter
„Was ich hinter dem Plexiglas und dem roten Porsche, den Beautyprodukten und den Stoffdrucken sehe, ist nichts anderes als das, was unsere Gesellschaft für erstrebenswert hält und was dem oder der Einzelnen beigebracht wird, zu wollen. Statussymbole, die man erwerben kann, Gegenstände, die von Reichtum und Erfolg künden, Schönheitsideale, die man zu erfüllen hat, Trends, denen gefolgt wird. Mein Spiegelbild ist nicht ausgenommen von den Wünschen und Erfordernissen einer Form der Selbstdarstellung, die uns durch die Festlegung von Normen vorgegeben wird“.
Anna Katrina Böger
„Das Danach. Was wird geschehen, wenn dieser Augenblick endet, und wie wird sich der nächste darstellen? Jim C. Nedds Werk entführt uns in eine Dimension, in der etwas bereits zu Ende gegangen ist und gleichzeitig kurz vor einem Neubeginn steht. Kann man eine nostalgische Sehnsucht nach einem unabgeschlossenen Ereignis empfinden, das sich uns noch nicht anverwandelt hat? Diese Fotografie scheint zu atmen in der Schwebe zwischen Zukunft und Vergangenheit, wenn es denn eine genaue Abgrenzung zwischen beiden geben sollte. Damit ist sie gefangen in einem unaufhörlichen Kreislauf zwischen zwei scheinbar unvereinbaren Wirklichkeiten, die durch die ewige Beziehung von Zerstörung und Erneuerung miteinander verbunden sind.
Auf den ersten Blick meint man, in den visuellen Bildelementen das Ende einer Geschichte, eines Abends, eines Augenblicks zu erkennen. Schatten, die keine Körper finden, Zigarettenstummel, die keinen Atemzug mehr tun, Straßenstaub und das Pulver stummer Knallkörper. Stille erfüllt den Raum, so wie nach dem Ende einer Party, wenn alle gehen. Zurück bleiben nur Schatten und der Müll, und an die Stelle dessen, wo zuvor Musik, Lachen, Tanz herrschten, tritt Stille. Damit verwandelt sich Musik in Stille und Vergangenes in Zukünftiges.
Doch können wir die Fotografie nicht einfach hinter uns lassen und gehen, so wie die Gäst*innen einer Party. Etwas schlägt uns in Bann und fesselt uns. Auch wenn es nicht ohne Weiteres greifbar ist, entfaltet es sich doch vor unseren Augen. Ist es nicht so, dass sich ein Phönix aus der eigenen Asche erhebt? Und dass wir Musik allein in der Stille als das hören können, was sie eigentlich ist?
Ein Ei, auf dessen Schale wir einen kleinen Sprung erblicken. Eine gewaltige Energie erschüttert das Werk, während es doch in der unbewegten Stille des Rahmens verharrt. Das Aufbrechen stellt sich vorerst nur als eine Möglichkeit dar, nicht als eine Gewissheit. Und genau das macht es womöglich so bedrohlich und so schön und allumfassend zugleich.
Das auf dem Boden verstreute Knallpulver verkörpert die Essenz dieses Bildes. Was würde geschehen, wenn ein neuer, noch glimmender Zigarettenstummel mit ihm in Berührung käme? Das bleibt ein Geheimnis, in ähnlicher Weise, wie wenn die Vergangenheit die Zukunft streift“.
Giacomo Pomelli
„Ein Rausch an Farben als Hommage an die Erde, die die Mutter aller Menschen ist. Ein Sternenhimmel vor weißem Hintergrund, ein allen Kulturen vertrautes Element, wird hier übertragen auf eine fremde Umgebung. Das Braun der Erde, das Ocker der Wüste, dazu das Blau des Himmels und das Grün des Meeres, dazwischen das zerklüftete Grau von Felsen. Ein textiler Verweis auf Orte, die ein Migrant oder eine Migrantin im Laufe ihres Lebens möglicherweise durchquert haben: Einige dieser Orte könnten ihrer Kindheit entstammen, andere der von ihnen unternommenen Reise, wieder andere dem Land, das sie aufgenommen hat. Hier und da erscheinen Schleifen, vielleicht auf dem Weg angetroffene Hindernisse oder Spuren eines vergangenen Ereignisses, die sich der Erinnerung eingeprägt haben. Ein Patchwork verschiedenartiger Stoffe, die eine aus gelebten Erfahrungen bestehende Decke ergeben, wobei sich die Farben ihre jeweilige Einzigartigkeit bewahren und dennoch miteinander verbinden, um Zeugnis abzulegen von einer Vergangenheit, die keineswegs verschwunden ist, sondern vielmehr Eingang in die Gegenwart finden kann. Zusammengehalten wird das Ganze von einem Faden, der einer ausgestreckten Hand vergleichbar von einem Stück Stoff zum nächsten weiterführt und als ein verknüpfendes Band dient zwischen Kulturen, die durch eine alte, über Jahrhunderte hinweg überlieferte Praxis zusammenfinden“.
Marta Ferrarini
„Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Boje auf der Wasseroberfläche treiben wird und die Aufgabe erfüllt, für die sie konstruiert wurde? Wir werden es nie erfahren, solange sie auf dem Boden des dritten Obergeschosses im Museion verbleibt. Dabei sind die Neugierde und das Bedürfnis, sie ins Wasser zu werfen, sehr groß.
Doch sind wir sicher, dass wir dieses Experiment tatsächlich durchführen und Antworten auf all diese Fragen erhalten möchten? Wie vieler Worte bedarf es, damit wir verstehen, dass diese Boje für uns steht, dass sie ein Sinnbild ist für die Herausforderungen, mit denen wir tagtäglich konfrontiert werden, und dass die Frage, ob wir untergehen oder nicht, allein von uns selbst abhängt?“.
Paola Occhiali