Schau nach oben und sieh
Alberto Garutti und der Dialog mit den Zuschauern
BETRACHTER
ALBERTO GARUTTI AUGUST 2022
Die Gesamtheit meiner Arbeiten stelle ich mir gelegentlich als eine lange und endlose Form des Dialogs mit den Betrachter*innen vor. In etwa so, als deklinierten alle diese Werke vielfältige Formen der Begegnung durch – von den frühesten Arbeiten, die ich in meinem Atelier konzipiert und entwickelt habe, bis hin zu den sich in die Landschaft hinein erweiternden Projekten. Sie umfassen Begegnungen mit den Bürger*innen im Zusammenhang mit öffentlichen Arbeiten, Begegnungen mit Institutionen und der Politik, mit Passant*innen, Tieren, Insekten und Pflanzen, mit den Nachbar*innen, dem Himmel, Räumen und Städten ebenso wie Begegnungen in den Falten des Kunstbetriebs mit Sammler*innen und ihrem Lebenshorizont, mit Museumsinstitutionen, mit dem Publikum von Ausstellungen, Messen und Biennalen. Das Etymon des Wortes „Betrachter*in“ – betrachten – verweist auf die Vorstellung des Blickes, aber auch auf die einer eingehenden Prüfung, einer Einschätzung und des Ins-Bewusstsein-Rückens sowie der einfachen Bewegung in eine Richtung: „ansehen, in Augenschein nehmen, seine Überlegungen richten auf“. Das Werk, so glaube ich, existiert allein in dem – kritischen, ethischen und liebevollen – Blick des- oder derjenigen, die es betrachten, in der ebenso einmaligen wie besonderen Begegnung mit seinen Rezipient*innen. Das Werk ist niemals vervollständigt, in seiner Gesamtheit nie auserzählt und per Definition vieldeutig. Große Kunstwerke sind Träger vielschichtiger Bedeutungen und Behälter der Zukunft, sie entziehen sich uns. Sie können sogar lügen. Wo aber können wir uns vorstellen, die einem Werk innewohnende Wahrheit zu finden? In der Annäherung an es, in der unablässigen Auseinandersetzung mit ihm, zu der der oder die Betrachtende – und Künstler*innen sind ja stets die ersten Betrachter*innen ihrer Werke – zwangsläufig aufgefordert ist. In diesem Sinne sind einige Werke für mich Schlüsselstücke, erhellende Fragmente, die Aufschluss geben über die Konstruktion meines Denkens, das den sich zwischen dem Werk und seinen Betrachter*innen aufspannenden Raum erforschen, erkunden und ausloten möchte.
Eines dieser Werke ist beispielsweise der für das Palace Hotel in Bologna gestaltete phosphoreszierende Kristall. Er entstand anlässlich der von Giacinto Di Pietrantonio kuratierten Ausstellung „Territorio Italiano“ (1995) und stellt die physische Metapher einer Begegnung dar. Damit handelt es sich um das erste meiner Werke, das umfassend dieser Thematik nachspürt. Die Begegnung zwischen ihm und den Betrachter*innen erfolgt in so intimer wie heimlicher Weise und findet nachts statt. Das Werk ist vieldeutig und nur schwer fassbar, leuchtet in eisigem Schein an der Grenze zwischen Schlaf- und Wachzustand und ist nur für den- oder diejenige sichtbar, die an diesem Ort schlafen. Innerhalb des Raumes – er ist ein öffentlicher und häuslicher Ort zugleich – wird das Werk zu einer Metapher für die Kunst selbst. Diese Arbeit, aus der zu einem späteren Zeitpunkt die halb unsichtbaren, phosphoreszierenden Möbel der Werkserie Che cosa succede nelle stanze quando le persone se ne vanno? (Was geschieht in den Räumen, wenn die Menschen gegangen sind) hervorgehen sollten, ist ein Manifest meiner künstlerischen Intentionen. Und so lade ich die Betrachter*innen dazu ein, sich in dem für die Kunst reservierten Raum – zwischen den Ausstellungssälen von Galerien, Museen und Biennalen – dem Werk suchend zu nähern und die Verantwortung für den eigenen Blick zu übernehmen, sich mithin auf die Suche nach dem Werk selbst zu begeben. In diesem Sinne verwandeln sich die für den Museumsraum der Ausstellung „Spazi atti / Fitting Spaces“ 2004 ausgewählten Möbelstücke oder zuletzt auch die Dutzende von Einrichtungsgegenständen einer Kunstmesse durch das Auftragen einer feinen Schicht phosphoreszierender Farbe und bieten sich erst zu nächtlicher Stunde dem Blick dar, wenn der institutionelle Raum geschlossen ist. So fordere ich die Betrachter*innen zum einen dazu auf, sich in poetischer Weise vorzustellen, was nicht sichtbar ist, und zum anderen über den Aspekt des künstlerischen Gehalts nachzudenken, über die doch so schwer fassbare Natur des Kunstwerks.
Als Christina Végh bei mir 2016 eine Arbeit für die Kestner Gesellschaft in Hannover in Auftrag gab, entschloss ich mich, anhand einer Bekanntmachung auf die kritische Verantwortung, die dem Blick der Betrachter*innen auch außerhalb des Museums zukommt, aufmerksam zu machen. Wir schalteten also eine ganzseitige Anzeige in der auflagenstärksten Zeitung der Stadt, und ich gestaltete dort eine künstlerische Arbeit in Form einer Textintervention: Dieses Werk ist jedem gewidmet, der jetzt den Blick nach oben richtet und schaut. Auf diese Weise forderte ich die Bürger*innen, die das lasen, dazu auf, die Augen zu heben, sich vom Lesen der Zeitungsnachrichten zu lösen und die Wirklichkeit zu betrachten, zu einer eigenen und kritischen Sichtweise der Dinge zu finden. Mithin zu dem, was Maurice Blanchot einmal als „Gabe“ bezeichnet hat: sich der eigenen Existenz bewusst zu werden.
Anders verhält es sich dagegen bei Prozessen zur Gestaltung öffentlicher Projekte: Dort erkenne ich die Bewegung genau in umgekehrter Richtung, wobei sich das Werk notwendigerweise und unmittelbar „an die Öffentlichkeit“ wenden muss. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, wie wichtig es ist, „vom Sockel des*der Künstler*in herabzusteigen“, um stattdessen eine Beziehung der Begegnung mit den Menschen aufzubauen, die frei ist von jeder auktorialen Rhetorik oder Überheblichkeit. Beim Agieren im städtischen Raum stelle ich mir stets vor, „im Dienst“ der Betrachtenden zu stehen, und sehe sie in buchstäblichem Sinne als meine Auftraggeber*innen an. In vergleichbarer Weise, wie man in der Marketingforschung die Vorlieben der Menschen und ihre Entwicklung erkundet und untersucht, um ein Produkt auf den Markt zu bringen, das imstande ist, künftige Trends und Bedürfnisse vorwegzunehmen , kann ich von mir sagen, dass sämtliche Begegnungen mit den Bürger*innen als künftige Betrachtende, dass also diese Begegnungen, die der konkreten Realisierung eines meiner öffentlichen Werke vorausgehen, als ein Werkzeug dienen, als notwendiges Mittel, um den Prozess zu aktivieren und die für die Gestaltung und Propagierung des Werkes notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Dabei gehe ich in machiavellistischer Weise vor, indem ich die Begegnung mit den Menschen als ein Arbeitsmittel nutze und versuche, mir mithilfe ihrer Erzählungen ein Fragment der Stadt anzuverwandeln, um ebendiesen Menschen anschließend ein anderes Fragment zurückzugeben und zu widmen, das ich anhand meiner künstlerischen Arbeit in eine neue Form gebracht, verändert und bearbeitet habe. Aus diesem Grund ist mir auch sehr daran gelegen, dass der hinter einer Intervention stehende Sinn für die Rezipient*innen, nämlich die betrachtenden Passant*innen der Stadt, unbedingt nachvollziehbar ist, ungeachtet dessen, ob sie nun in der Umgestaltung der Platzbeleuchtung, der Aufstellung neuer Sitzbänke in der Landschaft oder der Ausstattung eines alten Gebäudes auf dem Land mit einem goldenen Dach ein Kunstwerk sehen oder aber nicht.
Das Werk vollzieht eine kreisförmige Bewegung: Es entsteht in der Begegnung mit dem oder der Betrachter*in und schlägt – ohne weitere Vermittlung oder Zuhilfenahme spezifischer Referenzsysteme – einen Bogen zu den Betrachtenden zurück, bis das Werk sich auflöst und untrennbar mit dem Ort, den Dingen und den Menschen verbindet. Als ich beschloss, anlässlich meiner anthologischen Ausstellung im PAC im Jahr 2012 eine viermonatige radikale Performance zu gestalten, die die Beziehung zwischen dem Publikum und dem Museum zum Gegenstand hatte, nahm ich die Stimmen aller Ausstellungsbesucher*innen auf, ihre Bemerkungen und Geräusche, ihre Gespräche und ihr Geschwätz, und verwandelte somit den Betrachter und die Betrachterin in ein Subjekt-Objekt. Ich sah darin ein sich selbst schreibendes Drehbuch, das meiner Kontrolle entzogen und dessen Protagonistin die Stimme des Publikums war. Gleichsam wie eine natürliche und unerwartete Weiterentwicklung meiner frühen Arbeiten aus den 1970er-Jahren, die das kritische Bewusstsein des Einzelnen und das sich selbst reflektierende Subjekt behandelten, verlor das Kunstwerk im Museum seine Form und wandelte sich zu einem unendlichen offenen Gespräch zwischen den Dutzenden dort ausgestellten Arbeiten, dem Raum der Ausstellungssäle und der Vielzahl der Besucher*innen.
Die Präsentation des Buches “Alberto Garutti” findet im Rahmen des Ausstellungsprojekts “Piccolo Museion - Cubo Garutti. Eine Geschichte” statt. Die Ausstellung findet zwanzig Jahre nach der Eröffnung des Piccolo Museion statt, das im Jahr 2003 von Alberto Garutti im Bozner Stadtteil Don Bosco im Auftrag der Abteilung für italienische Kultur der Autonomen Provinz Bozen geschaffen wurde.
Im Laufe der Jahre hat das Kleines Museion - Cubo Garutti zahlreiche Projekte und künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum aufgenommen und aktiviert. Die Ausstellung zeichnet nicht nur seine Herausforderungen und Besonderheiten nach, sondern betrachtet den Cubo auch als ein Objekt der Reflexion, das - in den Worten von Alberto Garutti selbst - all jenen gewidmet, die hier vorbeikommen und interessiert stehen bleiben und sei es auch nur für einen kurzen Augenblick“.
Kuratiert von Frida Carazzato, in Zusammenarbeit mit Angelika Burtscher und Daniele Lupo (Lungomare)
Bis 01.09.2024