Bulletin 2023.1

Irma Blank: In memoriam

von Andreas Hapkemeyer
ANS390 Irma Blank, Radical Writings, Schrift-Atem-Übung 2 vom 27/8 ‘89, 1989 Öl auf Papier / Olio su carta 24 x 31,5 cm / 31 x 39 x 2 cm cornice Fondazione Museion. Museo d’arte moderna e contemporanea Bolzano. Collezione Archivio di Nuova Scrittura. Foto: Augustin Ochsenreiter

Die in Celle geborene und in den 1960er Jahren nach Italien gelangte Künstlerin Irma Blank ist vor wenigen Tagen im Alter von 89 Jahren gestorben. Jahrzehntelang ist sie eher am Rand als im Zentrum des italienischen Kunstbetriebs ihrer substanziell stillen Arbeit nachgegangen. Eine radikale Neubewertung und Aufwertung ihres Werkes hat die Künstlerin erst in den letzten zehn Jahren erfahren. Man kann darin eine Tragik sehen oder einen Triumph, bei dem das Durchhalten eines mühevollen und überzeugenden Weges am Ende zur verdienten Anerkennung führt.

Rund zwanzig von Irma Blanks Werken gelangten 1999 mit der Sammlung Archivio di Nuova Scrittura (ANS) des Sammlers Paolo Della Grazia ans Museion. Im ANS positioniert sich die Künstlerin im Kontext von Werken konkreter und visueller Literatur der 1960er, 70er und 80er Jahre. Blanks Oeuvre setzt Ende der 1960er Jahre mit den Eigenschriften ein, meist hochformatigen Blättern mit horizontalen, handschriftartigen Linien. Konstanten in Blanks Werk sind die Orientierung an der Handschrift und die Horizontalität, der durchgängige Verzicht auf Lesbarkeit bzw. auf die semantische Dimension von Sprache sowie die mit unendlicher Repetition operierende manuelle Ausführung. Dazu kommt Blau in verschiedenen Tonalitäten als dominante Farbe. Ab Ende der 1980er Jahre geht Blank in den Radical Writings über zu einer Kombination von Schrift und Malerei: an die Stelle des Stifts, der Zeile um Zeile mit schriftartigen Zeichen füllt, tritt nun der malerische, mit einem Pinsel gezogene Streifen, der eine Zeile repräsentiert. Diese Streifen sind also zum äußersten abstrahierte Schriften.

Dass man in ihren Werken verschiedene Textvorlagen erkennt – Zeitungen, Gedichtbücher, Rechtskodices usw. – ist ein letzter Rest von Inhaltlichkeit. Bemerkenswert ist, dass die Künstlerin in Werktiteln oder auch in Publikationen immer wieder Zitate von Denken und Dichtern verwendet, denen sie sich nahe fühlt. In diesen von außen herangetragenen Zitaten wird die Verweigerung von Semantik in den Bildern poetisch bzw. philosophisch begründet.

Das über Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre, letzten Endes über fünf Jahrzehnte praktizierte Schreiben ohne Worte ist ein fortgesetztes Exerzitium, eine Form manuell geleiteter lebenslanger Meditation. Obwohl bei dieser Praxis eindeutig Bilder entstehen, die man der Kunst zuordnen muß, ist gleichzeitig klar, dass wir uns hier in einem Grenzbezirk der Kunst bewegen, der an religiös zu bezeichnende Praktiken rührt. Dass in den Radical Writings jede Linie von einem Atemzug begleitet ist, zeigt die existenzielle Dimension von Blanks Bildern. In ihrer künstlerischen und existenziellen Radikalität ist Irma Blank am ehesten Roman Opalka und Hanne Darboven zu vergleichen, die sich ebenfalls nicht enden wollende, von Inhalt entleerte Schreibexerzitien auferlegt hatten.

Als Irma Blank 2017 im Zug der Präsentation ihrer Werke ins Museion kam, saß sie bereits im Rollstuhl. Kurze Zeit zuvor hatte sie mit ihrer Galerie noch einen Band mit Zeichnungen publiziert: sie sind aufgrund eines Schlaganfalls mit der linken Hand ausgeführt. Einfache horizontale Linien, die den westlichen Schreibduktus von links nachts und von oben nach unten elementar repräsentieren. Die Linien sind zitterig, aber sie stellen ohne jeden Zweifel eine direkte Fortsetzung ihres sonst auf höchste Präzision zielenden Werkes dar. Man kann diese zittrigen Zeichen als einen Beleg für einen Sieg des Geistes über die Krankheit und die Materie lesen.

Bulletin 2023