Bulletin 2023.2

Alberto Garutti und sein Cubo in Sassari Straße

Eine Erinnerung von Frida Carazzato

„Alberto Garutti hat in seiner Kunst radikal praktiziert, woran er zutiefst glaubte: die Dimension der Begegnung. Er ‚predigte‘ auf geradezu obsessive Weise, dass die Kunst nicht von oben herab kommen kann, sondern von ihrem Sockel heruntersteigen und auf den Betrachter und die Betrachterin zugehen muss. Zusammen mit der Kunst müssen für Alberto Garutti auch die Künstler*innen die feierliche Rolle dekonstruieren, die ihnen der Kunstbetrieb zugedacht hat, und die Dimension der Begegnung suchen: Begegnung als Metapher für Destabilisierung, Unsicherheit und damit Offenheit. Die Begegnungspraxis von Alberto Garutti, der jede*n, der oder die ihn mit ‚Meister‘ ansprach, sanft, aber bestimmt korrigierte, spielt in der Geschichte der öffentlichen Kunst eine grundlegende Rolle. Aber seine ‚Lektion‘ findet auch ein Echo in der Kunstwelt der Gegenwart, wo er nicht nur viele Künstler*innen im Rahmen ihres Studiums geprägt hat, sondern auch die Kurator*innen, die das Glück hatten, seinen Weg zu teilen.“

So erinnert sich Letizia Ragaglia, Kuratorin des Projekts Kleines Museion – Cubo Garutti, das 2004 in der Sassari-Straße in Bozen nach einer Phase der Recherche und des ständigen Dialogs nicht nur mit dem Auftraggeber, dem Amt für Kultur der Autonomen Provinz Bozen, sondern auch mit der Kuratorin selbst und den Menschen in dem Viertel, in dem das kleine Museum schließlich entstand, eröffnet wurde.

Der gelernte Architekt Alberto Garutti begann in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre mit der Arbeit an Projekten für den öffentlichen Raum und entwickelte dabei eine ganz eigene Methodik und Vorgehensweise. Parallel zu seiner künstlerischen Tätigkeit unterrichtete er viele Jahre lang, zunächst an der Akademie von Macerata, dann in Bologna, in Mailand an der Brera-Akademie und schließlich in Venedig, und beeinflusste viele Generationen von Künstler*innen, die sich in den Tagen, als die Nachricht von seinem Tod die Runde machte, mit großer Wärme an ihn erinnerten und ihn würdigten. Zuvor war bereits eine andere Hommage erfolgt: Anlässlich seiner Einzelausstellung im PAC in Mailand im Jahr 2012 hatte eine Retrospektive unter dem Titel „Didascalia/Caption“ seine wichtigsten Projekte und die dazugehörigen Beschriftungen – die Texte, die seine Werke begleiteten – zusammengefasst. Texte, die auf einfache und direkte Weise den Wirkungsmechanismus offenbaren, den Garuttis Werk aktiviert, die Begegnung mit dem Menschen, der vor ihm steht, und mit der Dimension, die das Werk eröffnet. So kann es passieren, dass man bei einem seiner Werke an den Himmel denkt, an die kleinen Mädchen, die gerade geboren werden, an die Hunde und Menschen, die in dieser Stadt leben, an die Menschen, die sich in diesem Theater verliebt haben, an die Schritte, die eine*n an diesen Ort führen oder geführt haben, an die Geräusche der Stadt oder an die Kunstwerke, die den Betrachtenden gewidmet sind. Diese letzte Widmung steht in der Beschriftung auf einer der vier Seiten des Kleinen Museion.

Alberto Garutti kam oft nach Bozen, und in den Jahren nach der Eröffnung des Cubo wurden Ideen und Planungen für das Kleine Museion immer mit ihm geteilt, auch wenn seine Besuche seltener wurden. Er war sehr daran interessiert, über die Außenstelle des Museion informiert zu werden, denn die Begegnungen, die sie ermöglicht, und das Engagement, das sie erfordert, sind auf Dauer angelegt.

Sein letzter Besuch in der Stadt fand 2014 statt, in dem Jahr, in dem der Cubo sein zehnjähriges Bestehen feierte. Eine von Alberto Garuttis Skulpturen, Madonna, wurde damals auch in der Gruppenausstellung Soleil Politique im Museion gezeigt. Es handelt sich um eine weiße Statue, die die Figur der Muttergottes nachbildet, aber sie weist ein für den Künstler grundlegendes Merkmal auf: Obwohl sie auf einem Sockel steht, fühlt sie sich bei Annäherung und Berührung nicht kalt und damit distanziert an, sondern hat die Temperatur eines belebten Körpers. Eine echte und nahe Präsenz, eine echte Begegnung.

Der folgende Auszug ist einem Interview mit Alberto Garutti anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Kleinen Museion entnommen. Das Gespräch wurde in seinem wunderbaren Atelier in Mailand geführt. In dem hellen, geräumigen Raum standen viele bequeme Sessel, einige davon dunkelgrün wie der Wintermantel, den er zu tragen pflegte, ein einladender Ort, wo man sich hinsetzen, die Beine übereinanderschlagen und es sich gemütlich machen konnte, um zu plaudern, zu diskutieren und sich zu treffen.

– Frida Carazzato, Forschungskuratorin in Museion

Mailand, 22. Mai 2015. Alberto Garuttis Atelier

Wir setzen uns unter das geöffnete Fenster und ich bitte ihn um ein Glas Wasser. Wir beginnen über das Kleine Museion zu sprechen. Im Dezember 2003 wurde dort die erste Ausstellung eröffnet. Mehr als zehn Jahre sind seit diesem Tag vergangen. „Erinnerst Du dich?“, frage ich.

Mailand, 22. Mai 2015

Alberto Garuttis Atelier

Wir setzen uns unter das geöffnete Fenster und ich bitte ihn um ein Glas Wasser. Wir beginnen über das Kleine Museion zu sprechen. Im Dezember 2003 wurde dort die erste Ausstellung eröffnet. Mehr als zehn Jahre sind seit diesem Tag vergangen. „Erinnerst Du dich?“, frage ich.

ALBERTO GARUTTI

Die Eröffnung fand im Dezember 2003 statt?

FRIDA CARAZZATO

2003 wurden die Bauarbeiten abgeschlossen. Im Dezember wurde das erste Kunstwerk ausgestellt, die Skulptur von Nino Franchina …

ALBERTO GARUTTI

… das Projekt selbst wurde aber schon im Jahr 2002 aus der Taufe gehoben und es bereitete mir große Freude. Später hat mich dann auch Renato Soru berufen, er hatte es einigen sardischen Städten angetragen, doch nach Sorus gescheiterter Wiederwahl als Präsident der Region Sardinien waren die nötigen Voraussetzungen und Kräfte nicht mehr vorhanden, um das Vorhaben fortzusetzen.

FC

Der Cubo in Bozen bleibt also derzeit der einzige seiner Art, obwohl Du eigentlich geplant hattest,

ihn zu reproduzieren, zu multiplizieren.

AG

Selbstverständlich kann ein solches Konzept vervielfältigt werden. Es ist möglich, die Methodologie, die Strategie, den gleichen Mechanismus in anderen Zusammenhängen zu wiederholen. In letzter Konsequenz aber ist der Cubo von Bozen seit 2002 der erste und der letzte geblieben.

FC

Es gibt ihn also seit mehr als zehn Jahren! Wer aber, Alberto, war der Auftraggeber, mit wem hattest Du zuerst Kontakt? Mit der Autonomen Provinz Bozen?

AG

Mein erster Auftraggeber war die Kuratorin Letizia Ragaglia. Ich hielt einen Vortrag im Spazio Oberdan in Mailand und bei dieser Gelegenheit wurden wir einander vorgestellt. Darauf folgte der Vorschlag, mich in ein Projekt in Bozen einzubinden … so hat alles seinen Anfang genommen.

Das Kleine Museion ist ein Werk, das auf der Grundlage einer bestimmten Themenvorgabe („Kunst und

Territorium“) entwickelt wurde. Daraus ergaben sich eine Reihe von Analysen, von Standpunkten und, wie immer, auch einige Schwierigkeiten.

Probleme sind immer ein großartiger Ansporn. Sie sind ein außergewöhnlicher Mechanismus, um einen Prozess in Gang zu setzen und Ideen zu formulieren. Kunst findet nur allzu häufig innerhalb der eigenen Grenzen ihre Daseinsberechtigung.

Ich denke dabei an die Kunstgeschichte: Jahrhundertelang sind in Europa und vor allem in Italien – gerade dank der Bedingungen, die durch die großen Auftraggeber wie Fürsten, hochgestellte Persönlichkeiten und insbesondere Päpste geschaffen wurden – herausragende Kunstwerke entstanden. Ich will das näher erläutern: In der mittelalterlichen Stadt, die nach dem Verteidigungsmodell konzipiert war, schützten hohe Mauern die Bevölkerung vor den Angriffen von Invasoren. Dieses Einschließen des Lebens innerhalb einer defensiv ausgerichteten städtischen Struktur hatte zur Folge, dass die Architektur ab einem gewissen Punkt der Malerei bedurfte, um ihre Wandflächen zu durchbrechen, und der Skulptur, um den Raum komplexer zu gestalten. Perspektive entsteht in der Tat dort, wo es Mauern gibt, denkst Du nicht? Andererseits zeichneten und beschworen bereits die urzeitlichen Menschen in der weiter zurückliegenden

Vergangenheit ihre Ängste im Inneren von Höhlen, die Urformen der Architektur sind. Die Höhle wurde

nicht nur zum Wohn-, sondern vor allem zum Daseinsort … Man kann sagen, dass Malerei und Skulptur sich mit der Architektur in einer Art wunderbarer Vermählung verbunden haben! Ich wiederhole also nochmals: In der Kunstgeschichte waren (und bleiben) die Grenzen bzw. Bedingungen eine außergewöhnliche Herausforderung für den Künstler. Und, um auf uns zurückzukommen, auch in Bozen hat sich dies bewahrheitet.

FC

Was genau aber wurde in Bozen von Dir verlangt?

AG

Ich hatte mich mit der Vorgabe „Kunst und Territorium“ auseinanderzusetzen. Ich musste Projektvorschläge vorlegen und zu diesem Zweck hatte ich zwischen verschiedenen Örtlichkeiten in der Stadt zu wählen, die von der Landesverwaltung ausgewiesen worden waren … darunter auch das Viertel Don Bosco, das interessant ist, weil es weiter am Stadtrand gelegen ist als andere. Ich begann mit vielen Ortsbegehungen, um das Gebiet besser kennenzulernen, und habe Informationen gesammelt, um das Werk besser in dem Territorium verankern und verwurzeln zu können, damit es eine größere Wirkung zu entfalten vermöchte.

Diese meine Herangehensweise hat einen Weg methodologischen Charakters vorgezeichnet, den ich auch heute noch beschreite. Erinnerst Du dich an meine Arbeit in dem kleinen mittelalterlichen Ort Peccioli aus dem Jahr 1994? Dieses Projekt war mein erstes öffentliches Werk. Bereits von der ersten Ortsbegehung an und seit dem ersten Treffen mit dem Bürgermeister war mir klar, dass es nicht vorrangig darum ging, einen schönen Platz zu fin-den, an welchem man ein Kunstwerk aufstellen kann, um die größtmögliche

Aufmerksamkeit zu erreichen. In meinen Augen lag die zwingende Notwendigkeit darin, ein Werk zu konzipieren, das in erster Linie von den Bürgern und anschließend dann auch von der Kunstwelt akzeptiert würde: Ich wollte eine kritische Botschaft aussenden, wie öffentliche Kunst realisiert wird. Für mich ist es wichtig, dass das Werk bei den Menschen auf Verständnis stößt, die in dem Gebiet wohnen, und einen Widerhall ihrer Geschichten möglich macht. In Peccioli begann ich, vier oder fünf Monate lang mit einigen

Leuten in der Bar des Ortes kleine Versammlungen abzuhalten, ehe ich eine Entscheidung traf. Gerade durch diese Gespräche erfuhr ich von einem kleinen einfachen Theater, das in den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts erbaut worden war. Ich begriff, dass dieser Ort für sie in hohem Maße von Bedeutung war und beschloss, das gesamte vorgesehene Budget darauf zu verwenden es zu restaurieren und wieder

in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen. Die Fragen, die ich stellte, waren in Wirklichkeit Versuche, mich den Leuten zu nähern, um sie auf der Gefühlsebene buchstäblich strategisch zu berühren. Ich empfand gerade dies als notwendig, weil das Werk im öffentlichen Raum erst zu leben beginnt, wenn es mit den Erlebnissen derer, die den Ort bewohnen und mit vielschichtigen Bedeutungsebenen aufgeladen wird. Genau von diesem Moment an gehört das Werk nicht mehr ausschließlich dem Künstler, sondern wird Teil der Stadt, versammelt in sich Erzählungen, Geschichten und Handlungen. Hier hört das Werk auf, ein autoreferenzielles Erzeugnis zu sein und wird zu einem aktivierten Gegenstand, mit dem man in Kontakt treten kann.

Sie können sich auch das Video-Interview in italienischer Sprache ansehen, das im Dezember 2022 aufgenommen und von Antonio Lampis, dem Direktor der Abteilung für italienische Kultur, Umwelt und Energie der Autonomen Provinz Bozen, mit Alberto Garutti geführt wurde.

Bulletin 2023