Bulletin 2024.1

Nehmen Sie die Rote Pille

von Matthew Fuller
#Hope #technology #Addiction
Shu Lea Cheang, RED PILL, 2021 – 2023, Installation (3 Pollen, 990 roten Blutkörperchen, Digitalvideo) Sammlung Museion, Photo: Lineematiche – L. Guadagnini, © Museion Das Projekt ist der Gewinner des PAC2021 - Piano per l’Arte Contemporanea gefördert von der Direzione Generale Creatività Contemporanea del Ministero della Cultura

In welchem Maße beeinflussen Technologien die sozialen und normativen Mechanismen unserer Körper? Diese Frage steht im Mittelpunkt der von der Künstlerin Shu Lea Cheang geschaffenen Multimedia-Installation RED PILL, die in der Ausstellung HOPE zu sehen ist. Die Arbeit fand Eingang in die ständige Sammlung des Museion und gehörte zu den Siegerprojekten des PAC2021 – Plan für zeitgenössische Kunst, der von der Generaldirektion für zeitgenössische Kreativität des Kulturministeriums gefördert wurde.

Nimmt man die Rote Pille der Biotech-Firma Genom Corporation, so geschehen zwei Dinge. Erstens reicht ein einfacher Händedruck, um Zugang zu einer neuen Ebene außergewöhnlich intensiver körperlicher Lust zu erhalten. Und zweitens ist die Genom Corporation nunmehr in der Lage, die Fähigkeit Ihres Körpers, Informationen zu verarbeiten, für das Verwahren, Versenden und Aufbereiten von Daten zu nutzen. Sehen Sie dabei zu, wie sich neue Kontaktgewohnheiten in der Gesellschaft und neue Mechanismen der Kontrolle wie ein Flächenbrand im menschlichen Körper verbreiten. Ach, und übrigens: Mit Einnahme der Roten Pille kann Genom zugleich Eigentumsrechte an Ihrem Körper geltend machen.

Dies ist das Szenario einer Reihe von Kunstwerken, die als treibende Kraft für Shu Lea Cheangs viralen Science-Fiction- und Alt-Reality-Film UKI dienen.

Der Film ist eine außergewöhnliche Tour de Force und imaginiert eine von Großkonzernen beherrschte Welt, in der Schrottsammler*innen auf riesigen Müllhalden elektronischen Abfalls leben, in der Cyborgs und Androiden ihren Alltagsaufgaben unter den gewöhnlichen Bürger*innen nachgehen – bis zu dem tragischen Tag, an dem sie technisch obsolet gemacht werden. Die imaginäre Cyberpunk-Welt wird gepaart mit einer queeren Haltung gegenüber sexuellem Vergnügen und den Mechanismen, die festlegen, wer oder was als Mensch oder als wertvoll zu betrachten sei. Dass in dem Film nichts festgeschrieben ist, braucht nicht eigens gesagt zu werden, nichts geht ganz nach Plan, und der Widerstand lernt, neue Formen anzunehmen. Auch gibt es kein Hollywood-Ende, bei dem der Gerechtigkeit Genüge getan wird und die Guten klar gewinnen. Stattdessen werden die Weisen illustriert, in denen Technologie, Lust und Macht stets miteinander verwoben sind, und das gelegentlich in unerwarteter Form. Darüber hinaus verbindet UKI reale Schauspieler*innen, computergenerierte Landschaften und Aneignungen von Bildern der Kunstgeschichte, etwa der Stadtlandschaften Edward Hoppers oder des roboterhaften „dritten Arms“ von Stelarc, zu einem reichen Intertext über Kunst und die Intensivierung der Wahrnehmung, der sich diese verschrieben hat.

Die Installation Red Pill besteht aus zwei Elementen: zum einen aus drei überdimensionierten, in 3-D-Druck gefertigten Medikamentenkapseln (mit einer Länge von je einem Meter), die ebenfalls 3-D-gedruckte Nachbildungen von Blutkörperchen enthalten, zu anderen aus einem Werbevideo, produziert von dem Unternehmen Genom, das die DNA der Blutzellen zur Anpassung des menschlichen Körpers an die eigene Plattform verändert hat. Obschon die Werbung das Produkt als sicher, unterhaltsam und nützlich darstellt, wirkt sie in gewisser Weise zutiefst beunruhigend. Sie setzt sich aus computergenerierten Bildern zusammen. Zunächst schütteln zwei schematisch dargestellte Hände einander, während im Hintergrund das Geräusch eines „Hardware-Handshakes“ zwischen Modems der 1990er-Jahre ertönt. Nach dem Trennen der Hände schweben blaue Datenpartikel in die Höhe. Während das Geräusch der ersten Phase des Geräte-Handshakes in das weiße Rauschen kommunizierender Computer übergeht, wandelt sich das Bild zu einem Strom zirkulierender Blutkörperchen, und ein chemisches Diagramm wirbelt über den Bildschirm. Daraufhin öffnen sich drei Blutgefäße, und eine Flut von Blutzellen ergießt sich in Richtung der Betrachtenden, um zwei Hälften einer Kapsel zu füllen, die sich sodann fest verschließt. Unterhalb der Darstellung einer Kapsel mit wimmelnden Blutkörperchen ist zu lesen: „Red Pill by Genom. Your Pleasure Our Business“.

Das Motiv der Tablette kehrt in Cheangs Werk in unterschiedlicher Form und an verschiedenen Stellen wieder. In dem Netzkunstprojekt Brandon (1998/99) assoziiert man Kapseln in vielen bunten Farben zunächst mit einer hedonistischen Flucht aus sexueller Reglementierung, doch sind sie so grell und simpel gefärbt, dass Vorsicht geboten ist. Auch die Pillen der vielflächigen Installation 3x3x6, die auf der Venedig-Biennale 2019 zu sehen war, wirken mit ihren eingeprägten, politische und sexuelle Freiheiten feiernden Symbolen ebenso grotesk wie übertrieben. Red Pill führt uns erneut in eine andere Richtung.

Kunst hat seit jeher die uns umgebende Welt dargestellt als ein Mittel zur Reflexion dessen, was in unserem Inneren im Hinblick auf Emotionen, Wahrnehmungen und Erfahrungen vor sich geht. Mit Red Pill fordert uns Shu Lea Cheang zudem auf, danach zu fragen, was wir uns vorstellen können, einzunehmen, um auf diese Weise über die Welt, in der wir leben, nachzudenken. Was schlucken wir, wenn wir die Welt so akzeptieren, wie sie ist?

Shu Lea Cheang (1954, Taiwan, CN) lebt und arbeitet zwischen Taiwan, Frankreich und den Vereinigten Staaten.
Die Multimediakünstlerin und Pionierin der digitalen Kunst erkundet in ihrem Schaffen soziale, politische und geografische Mechanismen, steckt ihre Grenzen und Begrenzungen neu ab und lebt von Science-Fiction, Gender Hacking, Theorien zur Virusinfektion sowie Videospielen. Mit ihrer Arbeit UKI Virus Rising (2018) war sie in der Ausstellung Kingdom of the Ill (Museion, 2021/22) und mit dem oben beschriebenen Werk Red Pill in der Ausstellung HOPE (Museion, 2023/24) vertreten.

Matthew Fuller ist Kulturtheoretiker und befasst sich mit Kunst, Wissenschaft, Politik und Ästhetik. Zuletzt veröffentlichte er in Zusammenarbeit mit Eyal Weizman das Buch „Investigative Aesthetics: Conflicts and Commons in the Politics of Truth“ (Verso 2021). Fuller ist Professor für Cultural Studies am Goldsmiths, University of London.

Bulletin 2024