Bulletin 2.2

Zwischen den fließenden Grenzen der Natur

Elena Bini über Karl Unterfrauners Neophyten

von Elena Bini
Karl Unterfrauner, Neophyten - Götterbaum, 2010. Farbfotografie (ed. 1/6), 68 x 102 cm. Sammlung Museion. Foto: Courtesy Karl Unterfrauner

Das Unkultivierte oder das, was wir Unkraut nennen, kann sich als privilegierter Ort und Element des ökologischen Wandels erweisen, eine neue Sichtweise auf den Raum eröffnen und Bereiche biologischer Vielfalt neu definieren. Im „Manifest der dritten Landschaft“, das 2005 in Italien erschien, entwickelt der französische Agrarwissenschaftler Gilles Clément den Begriff der „dritten Landschaft“ – sich selbst überlassenes Brachland, das durch die Abwesenheit des Menschen zu einem Refugium der Biodiversität wird.

Und so können ein Fluss, eine Autobahn, eine üppige Landschaft wertvolle Denkanstöße geben, was den Südtiroler Künstler Karl Unterfrauner (Meran 1965) neugierig machte und ihn zum Nachdenken über die unter Autobahnbrücken liegende Welt brachte. Das Projekt Neophyten entstand 2008, als der Künstler, der sich schon immer leidenschaftlich für die Natur interessierte und von ihrer Komplexität fasziniert war, begann sich für Pflanzen zu interessieren, die Botaniker als Neophyten bezeichnen. Dabei handelt es sich um „Wirts- und Wanderpflanzen“, die ursprünglich nicht zur autochthonen Flora eines bestimmten Gebiets gehören, denen es aber aus verschiedenen Gründen gelingt, sich in einer Umgebung auszubreiten und anzupassen, der sie nicht entstammen.

Robinia, Brennerautobahn A22. Courtesy Karl Unterfrauner

Karl Unterfrauner begibt sich 2009 mit seiner Kamera, zu Fuß auf eine Erkundungsreise durch verborgene Landstriche unterhalb der Brennerautobahn, entlang des Eisacktals. Die auf riesigen Brückenkonstruktionen ruhende, zwischen 1960 und 1970 erbaute Straße, veränderte unweigerlich die Landschaft und sozioökonomische Realität vor Ort. So, wie der Reisende, der auf der Autobahn von Norden nach Süden und wieder zurückfährt, die Landschaft, die Berge und den Fluss aus der Vogelperspektive betrachtet, so hat Unterfrauner, der durch die darunterliegende Welt reist, sich entschlossen, Niemandsland zu betreten, einen von Menschen geschaffenen Nicht-Ort, einen Schutthaufen, der durch den Bau der Autobahn entstanden und zu einem idealen Refugium für die Natur geworden ist. In diesem ungestörten, für Pflanzen und Tiere geschützten Lebensraum, der sich unsichtbar für den Menschen ausbreitet und wächst, konzentriert der Künstler seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf jene nicht einheimischen, pionierhaften Pflanzen, die „Neophyten“.

Zwischen 2009 und 2010 beginnt Unterfrauner sie zu fotografieren. Doch um sie überhaupt erkennen zu können, sind Vorkenntnisse nötig, die der Künstler dank der Unterstützung eines Botanik-Experten und Forschers an der Eurac erwirbt, der ihn auf dieser Entdeckungsreise begleitete. Unterfrauner schafft einen Bildkorpus, der 2010 im Rahmen des Kooperationsprojekts zwischen Museion und Eurac „Museion at the Eurac tower – Wissen schaf(f)t Kunst“, ausgestellt wird. Dank dieser Zusammenarbeit sind zwei Werke aus der Neophyten-Reihe, Riesen Bärenklau (2010) und Götterbaum (2010), nun Teil der Sammlung des Museion.

Karl Unterfrauner, Neophyten – Riesen Bärenklau, 2010. Farbfotografie, 102 x 68 cm. Sammlung Museion. Foto: Courtesy Karl Unterfrauner

Die Fotografien konzentrieren sich auf einzelne Pflanzen und zeigen sie sowohl in der natürlichen Umgebung (wie im Fall von Riesen Bärenklau) als auch in anthropisierter Umgebung (im Fall von Götterbaum).

Was den Künstler jedoch am meisten interessiert, sind in Wahrheit die Überlebensstrategien dieser Pflanzen: der Fokus liegt auf dem Konzept einer mächtigen Natur, die ihre Strategien verfolgt und sich geschickt in unserer zivilisierten Umwelt durchzusetzen vermag.

Aus künstlerischer Sicht lässt Unterfrauners Projekt gewisse Parallelen zu den Arbeiten von Lois und Franziska Weinberger erkennen, die 1997 bei der documenta X in Kassel ruderale Gewächse entlang der stillgelegten Gleise des Kulturbahnhofs pflanzten. Als ortsspezifische Intervention legten sie einen üppig gedeihenden Garten mit Pflanzen aus Süd- und Osteuropa an, die normalerweise in verlassenen Zonen wachsen und regten so Reflexionen über Vielfalt, sei es kulturelle Vielfalt oder Biodiversität, an.

Unterfrauner erzählt mittels unscheinbarer Pflanzen, den „Elenden“ der Pflanzenwelt, allgemein als Unkraut bekannt, subtile Geschichten von Kulturtransfers, Überlebenskämpfen und Anpassungsfähigkeit.

Inwiefern sind in der Pflanzen- oder Tierwelt bzw. in der menschlichen Welt die Grenzen fließend? Inwieweit konfrontiert uns die Globalisierung mit fragilen und instabilen Gleichgewichten? Welche Verbindung besteht zwischen biologischer und kultureller Vielfalt, zwischen verschiedenen Ökosystemen und der Diversität, die sich in der Vielfalt menschlicher Gemeinschaften in der Welt verwirklicht? So lassen uns die Werke von Karl Unterfrauner mit vielen offenen Fragen und signifikanten Denkanstößen zurück.

Elena Bini (Bozen, 1973) ist verantwortlich für die Abteilung Organisation der Sammlung/Archiv des Museion. Sie hat Conservazione dei Beni Culturali an der Universität Udine studiert. Danach hat sie Kunstgeschichte unterrichtet und in der Kunstvermittlung gearbeitet. In ihrer Freizeit liest sie gerne (alles mögliche), gerne geht sie in der Früh joggen (aber nicht zu früh) und beobachtet Tiere in der freien Natur.

Bulletin 2

Bewegung und Grenzen