Bulletin 2.3

Die Grenze ist ein Farbstreifen

Christiane Rekade über Red Line von Gianni Pettena

von Christiane Rekade
Gianni Pettena, Red Line (Siege), Salt Lake City, Utah, 1972. Farbfotografie auf Dibond, 21 x 25 cm. Sammlung Museion. Foto: Gianni Pettena

Man könnte sagen, Grenzen sind auf eine besondere Weise präsent im Leben und Werk von Gianni Pettena. Aber nie als Einschränkung. Viel mehr im Sinne der offenen, neugierigen Haltung, die Pettena souverän über alle möglichen Zuordnungen und Eingrenzungen hinweg arbeiten und sich bewegen lässt: Nicht nur die geografischen Grenzen, auch Werkkategorien oder Disziplinen stellen für den Künstler nichts Festgesetzes dar. Als Mitbegründer der italienischen “Architettura Radicale“ begann er, parallel zu Superstudio, Archizoom oder Ufo in Italien oder zu Hans Hollein, Walter Pichler u.a. in Österreich Architektur in neuen avantgardistischen und utopischen Kategorien zu denken. Obwohl er Architektur studiert hatte und auch viele Jahre als Professor Architektur lehrte, sind seine Arbeiten und Projekte hauptsächlich künstlerischer Natur: Installationen, Zeichnungen, Fotografien, Performances.

Auf die Bedeutung der Grenzen für ihn und seine Werke angesprochen, sagte Gianni Pettena kürzlich in einem Gespräch: „La nostra generazione era probabilmente la prima che non aveva subito traumi della seconda guerra mondiale, è una generazione che non aveva ferite da curare, che poteva guardare in avanti. E per la prima volta poteva desiderare tutto, desiderare di comunicare i propri pensieri senza confini disciplinari e senza confini geografici.“ 1

Gianni Pettena, 1940 in Bozen geboren, ging gleich nach seinem Architekturstudium in Florenz in die USA: Zuerst als“artist-in-residence” nach an das College of Art and Design in Minneapolis und im Jahr darauf. Von 1972-1973 war er guest-lecturer an der University of Utah in Salt Lake City. In dieser Zeit setzte er sich mit der amerikanischen Land Art und Konzeptkunst auseinander, pflegte Freundschaften mit Künstlern wie Robert Smithson, Gordon Matta Clark und anderen. Die Erfahrung der Natur und weiten Landschaft in den USA regten Pettena zu neuen Reflexionen über die Beziehung von Natur und Architektur, über die Wechselwirkung von Landschaft und konstruierter Umwelt an. Die Werke, die in dieser Zeit entstanden, sind oft Performances – eine Art „Architektur-Performances“, die diese Wechselwirkungen nicht nur sichtbar, sondern auch erfahrbar machen: So etwa die Arbeiten der sogenannten Salt Lake Trilogy. Die Trilogie besteht aus drei Performances, die er 1972 gemeinsam mit seinen Student*innen realisierte: Clay House, Tumbleweed Catcher und Red Line.

Für Red Line fuhr der Künstler im Februar/März 1972 die Grenzen von Salt Lake City mit einem Camion ab und sprühte von dort mit roter Farbe eine Linie auf die Strasse. Auf über 45 km Länge machte er so die Grenzen der Stadt sichtbar und erfahrbar. Pettena zieht die Grenze zwischen dem urbanen Raum und der Natur nach, folgt der Linie, an der die Architektur in Landschaft übergeht. So zeichnet er in Red Line die (gebauten) menschlichen Spuren in der Natur nach, macht Widersprüche und Schönheiten des urbanen Raumes sichtbar und fragt nach dem Verhältnis zwischen Stadt und Natur, zwischen gebauter Umgebung und natürlicher Landschaft.

Dieser Linie zwischen Architektur und Natur folgt Gianni Pettena in seiner künstlerischen Praxis bis heute – und typischerweise ist es mal eine verbindende, mal eine trennende Linie, mal eine sichtbare, mal eine sich-auflösende Linie.

Das Abschreiten, Nachspuren und Nachzeichnen unserer Grenzen ist eine Möglichkeit, unsere eigenen Wahrnehmung zu überdenken, die eigenen Position zu bestimmen und nicht zuletzt auch über die Grenzen hinauszudenken. Ein ähnlicher Versuch wurde vor rund 20 Jahren auch in Südtirol unternommen: In einer 41 Tage dauernden Rundtour umwanderten 1991 Reinhold Messner und Hans Kammerlander Südtirols Grenzen so exakt wie möglich ihrem Verlauf entlang, um damit zum Nachdenken über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Region anzuregen. „Wären“ – so schreibt der Künstler Hannes Egger treffend – „die beiden nicht Bergsteiger sondern Künstler, hätte es sich bei der Aktion „Rund um Südtirol“ wohl um eine Performance gehandelt.“ 2

Auch heute – in einer Zeit, die geprägt ist von roten Linien und roten Zonen, in denen uns die Grenzen unserer Regionen, unserer Länder – ja selbst unserer Wohnungen neu bewusst werden, lassen sich vielleicht im Abschreiten und Nachspuren der Grenzlinien unsere gewohnten Perspektiven verändern, unsere Positionen überdenken.

Christiane Rekade ist Kuratorin bei der Fachstelle für Kunst und Bau der Stadt Zürich. Bis Juli 2020 war sie künstlerische Leiterin des Kunsthaus Meran, wo sie 2017 Gianni Pettenas Einzelausstellung „Natürliche Architekturen“ zeigte. Sie erinnert sich, dass Pettena ihrer damals vierjährigen Tochter das sogenannte „Gianni-Pettena-Spiel“ beigebracht hatte: Dafür wurde auf einem Blatte Papier eine senkrechte Linie gezogen. Pettena zeichnete etwas auf der einen Seite der Linie, danach antwortete die Tochter zeichnend auf der anderen Seite der Linie. Wieder ein Dialog über die Linie hinweg.

1.
https://www.youtube.com/watch?v=bIZN6tsIfrE. Pecci Art Books: PRESENTAZIONE DEL LIBRO “GIANNI PETTENA 1966-2021“, con Gianni Pettena, Luca Cerizza e Stefano Pezzato. Introduce Cristiana Perrella. (Meine Generation war die vielleicht die erste, die ohne Trauma des Krieges aufwuchs, die keine Wunden zu heilen hatte – wir waren vielleicht die erste Generation, die bedingungslos nach vorne schauen und die nach allem streben konnte, die ihre eigenen Ideen ungeachtet der Grenzen -seien es jene der Disziplinen, seien es geografische. Übers. d. Autorin)
2.
Hannes Egge, Seiltänzer – von sensiblen Gleichgewichtes am Berg, in: Bivacco, Hrsg Associazione ArtintheAlps Verein, Bozen 2019, S.19.
Bulletin 2

Bewegung und Grenzen