Bulletin 2.4

Bolzano Drive

Logbuch

von Lucas Joaquin Da Tos Villalba
Cristian Chironi, “Bolzano Drive”, 2020. Foto Luca Guadagnini/ Lineematiche

Logbuch.
3. Oktober 2020.
es ist jetzt 19.23 Uhr
mehrere Stunden sind vergangen, seit ich aus dem Chamäleon-Auto ausgestiegen bin, das Cristian gefahren ist.
Ich versuche, einen Gedanken zu entwickeln, der die Erfahrung fassen könnte.
Gerade dieses Forschen blockiert mich.
Es hält mich am Boden wie ein Möwenküken.
Möwe, ich wähle nicht zufällig diesen Vogel.
Die Besonderheit der Möwe ist sicherlich, eine große Reisende zu sein.
Manche Arten fliegen meilenweit, nur um einen Nistplatz zu finden.
Als Kind beobachtete ich diese Vögel oft und fragte mich, wo sie herkommen.
Welche Reise sie bereits hinter sich hatten und welche noch vor ihnen lag.
Hier.
Die Reise.
Am Ende läuft alles auf dieses Wort hinaus.
Reise.
Heute Morgen bin ich in ein Auto gestiegen.
Ein buntes Auto.
Ein Künstler als Fahrer, zwei Passagiere und ein Co-Pilot.
Ich.

Cristian Chironi, “Bolzano Drive”, 2020. Foto Luca Guadagnini/ Lineematiche

Ich sehe mir das Auto an.
Klein.
Sehr klein.
Wir passen alle rein, und überraschenderweise ist es bequem.
Die Ledersitze empfangen mich unmittelbar.
Es fällt mir ein, mein Vater fuhr einen Alfa Romeo 75. Schwarz. Ledersitze.
Quälender Käfig in den heißen Sommern von Bozen und noch schlimmer in den venezianischen.
Mein Vater liebte sein Auto. Eine ganz eigene Liebe, schwer zu erklären.
Das Auto war wie ein lebendes Geschöpf.
Das Tanklicht war orangefarben.
Immer leuchtend.
“Mit mir am Steuer wird es nie ausgehen.”
Die Straßen von Bozen strömten schnell am Autofenster vorbei.
Die orangefarbenen Lichter erhellten die Straßen, die ich nun langsam in Christians Auto entlang fahre.
„In der Stadt fährt er dreißig und auf der Autobahn achtzig.“
Christian reist um die Welt und in jeder Stadt wechselt das Auto seine Farbe.
Deshalb Chamäleon.
Wir durchqueren die Stadt und um mich herum sehe ich die üblichen Straßen, die ich mein ganzes Leben lang kenne und fahre,
fast automatisch.
Aber ich sehe sie an und habe das Bedürfnis, zu zeigen, was ich sehe.
Meine Stadt und die Stadt meines Vaters.
Eine Stadt der Reisenden, der Verzweifelten, der Fußballfans, der Transplantierten, der Ausländer, der Autochthonen, der Fahrraddiebe, des verdammt guten Bieres, der Tiroler Gerichte, der riesigen Häuser, der kleinen Häuser, der Spielfelder, der Rollerbahnen, der Parks, der Brücken, des Verkehrs im Regen und verlassen unter der Sonne eines ewigen Sonntags aus Pasta mit Soße, Fußball, Formel 1, Weinen und Geschrei.
Die Stadt, die ich erzählen möchte, entrollt sich vor unseren Augen, und es fällt mir schwer, mit ihr Schritt zu halten.
Aus irgendeinem Grund muss ich immer wieder an meinen Vater denken und daran, wie ich immer dachte, dass ich diese Stadt nicht ertrage.
Christian findet sie interessant.
Sicher.
Und doch schließen uns die Berge ein.
Oder verteidigen sie uns?
Wir halten an.
Passagierwechsel.
Wechsel der Welt, Wechsel der Straße, Wechsel der Zeiten, Wechsel der Witze, der Fragen.
Kennst du den Rosengarten nicht?
Jeder gute Bozner kennt die Geschichte von König Laurin.
Es ist eine Geschichte, die sie uns von klein auf erzählen.
Ich erzähle und Christian fährt.
“Schöne Geschichte.”
Als wir aus dem Auto aussteigen, kommt mir vor, alles sei zu früh vorbei.
Verabschiede mich.
Verspreche ein gutes Bier.
Jeder gute Bozner verspricht ein gutes Bier.
Gehe zurück zu meinem Auto.
Ich durchquere erneut die Stadt und einige Straßen sind die selben.
Aber etwas scheint verändert.
Genau wie nach einer Reise.

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Lucas Joaquin Da Tos Villalba (Esperanza, Argentinien, 1993) hat ein Diplom für Theaterbeleuchtung und eine Schauspielausbildung an der Accademia Teatrale Veneta, Venedig, erhalten. Er beschäftigt sich mit Narration, Dramaturgie und Formen des Storytellings. Er arbeitet aktuell mit dem Teatro Stabile und dem Teatro Cristallo zusammen. 2020 gründet er während des Lock-down zusammen mit anderen Schauspielern und Schauspielerinnen die Theater-Kompanie Controtempo Teatro. Er hat einen Hund, den er einem Strand bei Catania gefunden hat und den er Paco nennt, da er so ruhig ist (ital. pacato); wer diesen Hund kennt, versteht das gleich.

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