Bulletin 1.6

Er geht und geht und geht

von Andreas Hapkemeyer, Museion, Forschung & Lehre
Gianpietro Fazion, “Ritornare verso”, (aus der Serie “Non-opere”), 1967-1969. 40,5 x 30,5 cm. Ed. 1/5. Sammlung Museion.

Das Gehen ist die selbstverständlichste Tätigkeit des Menschen. Sofern ihn nicht unglückliche Umstände daran hindern. Wenn man Kunst als das Besondere oder Andere betrachtet, mag es verwunderlich erscheinen, dass etwas höchst Selbstverständliches wie das Gehen zur Kunstform aufsteigen und seinen Ort in der Kunst finden kann.

2002 präsentierte Museion in einer Ausstellung eine größere Anzahl von Fotoarbeiten des kaum bekannten italienischen Künstlers Gianpietro Fazion. Sie zeigen Ansichten aus den von ihm in den 1960er-Jahren durchwanderten (Südtiroler und Trentiner) Bergen. Bei seinem weitgehend planlosen Durchstreifen der Landschaft ging es Fazion immer darum, einen sehr intimen Kontakt zur Natur herzustellen. Sein Werk entwickelt sich 1967-1972 parallel zur Land Art, in deren Kontext es auch zu sehen ist. Das Besondere an seinen Arbeiten ist ihre spirituelle Ausrichtung im Sinne des Buddhismus. Zum Teil bestehen Fazions Werke aus symbolischen Einritzungen, die er in stundenlanger Arbeit in Felsen vornimmt: Kreise, Spiralen, Winkel, die auf Baumnadeln anspielen. In der Serie der „Non opere“ erscheinen Aufnahmen von Felsen und Pflanzen gleichsam als göttliche Readymades. In den „Non luoghi“ (Nicht-Orten) geht es ihm um immaterielle Orte der Vorstellung: eine Höhle, eine Landkarte, auf der alle Ortsnamen gelöscht sind, ein leerer Stuhl in einem Klosterkreuzgang …

Es überrascht vielleicht nicht, dass Fazion beschließt, das Kunstsystem zu verlassen, als er 1971 von der Versteigerung eines van Gogh-Werks um einen damals atemberaubenden Preis erfährt. Er will die sich in diesem Verkauf manifestierende Kollision zwischen radikaler Kunst und Vermarktung nicht akzeptieren. Mit einem öffentlichen Brief verabschiedet er sich: „Ich weiß sehr wohl, dass ich mit meinem Entschluss das System unverändert lasse, das mich akzeptiert, wenn ich mitmache, und dem ich nicht fehle, wenn ich mich zurückziehe: aber in mir ist ein anderes Bewusstsein, ein neues Licht: wir brauchen noch Himmel“.

Fazion gibt die Kunst auf, geht für Jahre nach Indien und vertieft sich in die Lehre des Buddhismus. Nach Italien zurückgekehrt wird er zu einer wichtigen Figur im interreligiösen Dialog zwischen Buddhismus und Katholizismus, wovon zahlreiche Buchpublikationen zeugen. Ende der 1990er-Jahre schenkt er die noch in seinem Besitz befindlichen Werke – vor allem Fotoarbeiten und eine Anzahl von Textarbeiten – dem Museion. Er braucht sie nicht mehr und will sie in einem Museum verwahrt wissen. Heute lebt Fazion in einem Pflegeheim in der Nähe von Assisi.

Hamish Fulton

Der ebenfalls mit einigen Werken in der Sammlung Museion vertretene Brite Hamish Fulton, der im Unterschied zu Fazion bereits in die große Kunstgeschichte eingegangen ist, bezeichnet sich selbst als „Walking Artist“. Wie seine Studienkollegen Gilbert & George ersetzt er das herkömmliche Kunstobjekt durch eine Handlung: Gehen als Kunstform. 2005 fand im Museion eine Einzelausstellung mit Wandbildern Fultons statt, nachdem er zuvor im Gadertal an neun aufeinanderfolgenden Tagen neun verschiedene Gipfel begangen hatte. Diese mehrtägige Unternehmung hatte wie alle anderen Märsche des Künstlers einen klar definierten Anfangs- und Endpunkt sowie ein klares Zeitgerüst: neun Tage, neun Gipfel. Dieser Unternehmung widmete der Künstler in seiner Ausstellung eine große Wandarbeit. Sie wurde erworben und ging – wie auch eine Reihe von Zeichnungen, die einen 24-stündigen Marsch des Künstlers mit Reinhold Messner dokumentieren – in die Sammlung des Museion ein.

Hamish Fulton, “Dolomites”, 2004. 45,5 x 60 cm. Ed. 1/46 – 46/46 + 4 e.d.a. Sammlung Museion. Foto: Ivo Corrà

Ist Hamish Fulton ähnlich wie Fazion ein spiritueller Künstler? Schwer zu sagen. Jedenfalls geht es ihm in erster Linie um die Erfahrungen, die er bei seinen allein durchgeführten Märschen macht. Wenn man sich vorstellt, dass Fulton dabei täglich ungefähr die Strecke eines Marathonlaufs zurücklegt, ahnt man die Intensität dieser Unternehmungen. Es handelt sich um Grenzerfahrungen. Die Fotoarbeiten, Zeichnungen oder auch Wandbilder, die einzelne Momente aus seinen Märschen herausgreifen, stellen Objektivierungen eines ansonsten ungreifbaren Bewegungs- und Erfahrungsflusses dar. Seine Werke sind gewissermaßen Abfallprodukte seiner Erfahrungen, aber sie sind das Einzige, was die Märsche der Vergänglichkeit entzieht.

Fazion und Fulton – wie auch der ebenfalls in der Sammlung Museion mit einem Steinkreis, einer Foto- und einer Textarbeit vertretene englische Künstler Richard Long – lassen sich dem Phänomen der um 1970 auf den Plan tretenden Land Art zurechnen, die einen Hang zu Entmaterialisierung und Konzeptualität aufweist. Im Unterschied zu Long, der in den von ihm durchwanderten Landschaften Veränderungen vornimmt, indem er mit Steinen oder anderen natürlichen Fundstücken Kreise, Rechtecke usw. schafft, beschränkt sich Fulton aufs Gehen. Er verzichtet ganz bewusst auf Eingriffe in die Natur. Aus Respekt.

Fulton ist klar, dass er als weltweit agierender Künstler – durch die zahlreichen Flugreisen im Zusammenhang mit seinen Märschen und seinen Ausstellungen – einen nicht unerheblichen CO2-Fußabdruck hinterlässt. Darauf ist er nicht stolz, nur kann er das nicht vermeiden, solange er als Künstler aktiv ist. Dafür, sagt er, müssen für seine Ausstellungen im besten Fall keine Werke transportiert werden. Im Idealfall entsteht – wie bei der Wandbild-Ausstellung im Museion – alles vor Ort. Oder die Werke sind so klein – beispielsweise kleine Holzstäbchen, wie in einer Ausstellung in Messners Schloss Juval im Jahr 2002 -, dass man sie in der Jackentasche transportieren kann.

In einem Interview, das in dem 2005 im Museion entstanden Fulton-Katalog abgedruckt ist, spricht der Künstler über die sogenannten japanischen „Marathon-Mönche“. Diese umrunden als körperlich-spirituelle Übung den Mount Hiei auf einem 84 km langen Pfad immer wieder und wieder. Diese Aussage darf wohl als Interesse an der geistigen Dimension des Gehens interpretiert werden, obwohl Fulton sich bezüglich seiner Spiritualität gerne bedeckt hält. „Making art should be as simple as sweeping the floor”. Vielleicht ist diese Anspielung, die auf die zentrale Bedeutung einfachster Handlungen im Zen-Buddhismus verweist, als ein versteckter Hinweis des Künstlers auf seine in der Öffentlichkeit gerne heruntergespielte Spiritualität zu lesen.

Bulletin 1

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