Bulletin 3.2

Eine neue Rolle für die Museen

Gespräch mit Adele Maresca Compagna, Präsidentin von ICOM Italia

“Tourists taking pictures of Mona Lisa painting in the Louvre Museum in Paris, France”. Foto Marcin Rogozinski / Alamy Stock

Die 2019 in Kyoto bei der umstrittenen Vollversammlung des ICOM geführte Diskussion über die Rolle des Museums dauert an. In Kyoto hatte eine Anzahl von Ländern eine Neudefinition des Museumsbegriffs vorgeschlagen. Damals ahnte man natürlich nicht, dass eine Pandemie den Tourismus treffen und Museen in aller Welt zur Schließung zwingen würde. Unter den neuen Bedingungen mussten die Museen ihre Energien auf Kommunikationsformen lenken, die zivile Verantwortung über touristische Bedürfnisse stellen. Wir haben darüber mit Adele Maresca Compagna, der Präsidentin von ICOM Italia (International Council of Museums) darüber gesprochen, welche Position Italien in dieser Debatte vertritt.

1. Aufgrund der pandemiebedingten Schließungen haben die Museen neue Energien freisetzen müssen, um – über ihre touristische Rolle hinaus – ihre soziale Rolle und ihre Bedeutung für die lokalen Gemeinschaften zu kommunizieren. Wie sehen Sie die Situation?

In der langen Zeit der Schließung haben die Museen ihre Politik überdenken und ihre Aktivitäten sowie die Organisation der Arbeit neu programmieren müssen. Der Ausfall des Publikums hat nicht nur zu ökonomischen Engpässen geführt und Auswirkungen auf davon abhängige produktive Tätigkeiten vom Transportwesen über den Tourismus bis zum Handwerk gehabt, sondern hat zu einer Identitätskrise der musealen Institutionen geführt, die ja schon länger stark am Publikum orientiert sind.

In dieser Situation fragen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, welche Rolle sie angesichts geschlossener Museen übernehmen sollen und was sich für eine (selbstverständlich absolut sichere) Wiedereröffnung tun lässt. Es ist öfter gesagt worden, dass während des ersten Lockdowns multimediale Instrumente und das Internet dazu benutzt wurden, um auf Distanz zu kommunizieren und die verwahrten Bestände zu visualisieren und neu entdecken zu lassen.

Heute gehen wir in Richtung einer graduellen Wiedereröffnung und studieren – um den Ausfall des ausländischen Tourismus und die Schwierigkeiten bei der Organisation großer Events zu kompensieren – gezielte Aktionen, um die Attraktivität der Museen und anderer kultureller Institutionen, aber auch natürlicher Kontexte zu erhöhen. Das Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger, sie zu besuchen, soll unter Einsatz der diversen professionellen Kompetenzen und unter Berücksichtigung ihrer Empfehlungen wiedererweckt werden.

2. Die Diskussion über die soziale Rolle der Museen stand und steht immer noch im Zentrum einer sehr lebhaften Auseinandersetzung über eine neue Museumsdefinition, wie sie 2019 anlässlich der außerordentlichen Generalversammlung des ICOM in Kyoto geführt wurde. Innerhalb des ICOM gibt es unterschiedliche Positionen, vor allem wenn es um das zivile und soziale Engagement geht. Wo positioniert sich in dieser Diskussion Italien, das Sie ja vertreten. Wie wird sich Ihrer Meinung nach die Diskussion über die Rolle des Museums entwickeln?

Nach wie vor bleiben sicherlich das traditionelle Bewahren und Erforschen essentielle Funktionen des Museums. Um aber allen nachvollziehbar zu machen, dass diese Aufgaben mit öffentlichen Mitteln gefördert werden, um Kooperationen und partnerschaftliche Beziehungen mit anderen Institutionen und Unternehmen herzustellen, muss man zeigen, dass Museen heute eine aktive Rolle spielen. Eine Rolle für die Individuen, die mehr Wissen, Teilnahme, Genuss und Gesundheit für sich wünschen, indem ihr kritisches Denken, ihre Kreativität, ihr Geschichtsbewusstsein, ihr Wissen um politische, umweltbezogene und soziale Probleme der Gegenwart stimuliert wird.
Das Museum muss eine Rolle spielen für die in der Region lebenden Gemeinschaften und zur Überwindung der Ausgrenzung, kultureller und sozialer Differenzen beitragen und damit eine ökonomische und produktive Aktivierung befördern.
Das sind die Anforderungen, die sich in dieser Krise am drängendsten präsentieren, aber sie werden in der internationalen Museumsdiskussion schon seit einiger Zeit thematisiert und in zahlreichen internationalen Papieren angesprochen. Hingewiesen sei auf die Definition des ICOM, die schon seit 1974 die Wendung “im Dienst der Gemeinschaft und ihrer Entwicklung” vorsieht, die sich an der Empfehlung der UNESCO Zum Schutz und zur Förderung der Museen, ihrer Vielfalt und ihrer Rolle in der Gesellschaft von 2015 orientiert. Diese Forderungen sind nachdrücklich im neuen Definitionsvorschlag enthalten, der 2019 in Kyoto der Generalversammlung des ICOM vorgelegt wurde. Wenngleich die Formulierung unserer Meinung nach nicht klar und deutlich genug die Charakteristiken und Funktionen der Museumsinstitution anspricht, lässt sich eine Erweiterung der Vision, der Mission und der Ziele des zeitgenössischen Museums feststellen. In die Formulierung sind zahlreiche Anliegen der Agenda der Vereinten Nationen zur nachhaltigen Entwicklung eingegangen.

3. Ist die aktive Rolle des Museums in der Gegenwart, von der Sie sprechen, ein Aspekt, der für die italienischen Museen neu ist, oder hat er in Italien schon Wurzeln geschlagen? Welches sind die Hindernisse für diese neue Vision und was bräuchten Ihrer Meinung nach die italienischen Museen am meisten?

Ich glaube, dass sich in der italienischen Museumslandschaft das Bewusstsein dafür verbreitet, dass ein Museum nicht nur ein Ort ist, an dem man die Schönheit bewundert, sich historisches, künstlerisches, naturwissenschaftliches Wissen aneignet und zum aktiven Staatsbürger erzogen wird, sondern dass das Museum ein Ort der Auseinandersetzung und der Diskussion heutiger Probleme ist – vom Klimawandel über die sozialen Konflikte und Vorurteile bis zur Ungleichheit.

Zahlreiche Museen haben schon seit geraumer Zeit beschlossen, über das Museum hinauszugehen und Verantwortung für die am Territorium verteilten Bestände und die benachbarten communities zu übernehmen und immer breitere Publikumsgruppen anzuziehen. Während der Dialog mit den anderen Kulturinstitutionen und den Schulen weitergeht, lassen sich – wenngleich noch mit zu wenig Kontinuität und unregelmäßig – interessante Projekte beobachten, die darauf abzielen, benachteiligte soziale Gruppen, aber auch ethnische oder sprachlich-kulturelle Minderheiten zur Beteiligung am kulturellen Leben zu bewegen. Es handelt sich um sehr komplexe und delikate Prozesse, die es erlauben, verschiedene Sichtweisen und unterschiedliche Blickwinkel auf ausgestellte Werke kennen zu lernen und, gegebenenfalls, auch die Präsentation, die Interpretation oder die Art der Kommunikation zur Diskussion zu stellen.

Zweifellos gibt es noch zahlreiche Hindernisse zwischen der Erkenntnis der sozialen Rolle des Museums und den konkreten Möglichkeiten, die nachhaltige Entwicklung zu befördern.

Jenseits der Rhetorik und allgemeiner Feststellungen , die oft über die effektiven Aktionsmöglichkeiten einer Institution hinausgehen, hat es sich in den Leitungsgremien und bei den Direktorinnen und Direktoren noch nicht die volle Einsicht in die Notwendigkeit einer Revision der kulturellen Mission und der entsprechenden Ziele sowie der dafür vorzusehenden Mittel durchgesetzt, der alle Museen folgen sollten.

Dazu kommen das Fehlen einer adäquaten professionellen Ausbildung der Mitarbeiter_innen und Personalmangel, vor allem was die Funktionen angeht, die über das Konservieren und Pflegen der Sammlung hinausgehen. Außerdem ist man wenig Teamarbeit gewohnt, bei der man neue und möglicherweise von außen kommende Kompetenzen erwirbt. Nur selten kann man bei transversalen Aktivitäten mit neuen Methoden und Instrumenten experimentieren, die über die disziplinären Bereiche und die jeweiligen Organisationseinheiten hinausgehen.

ICOM Italia vertritt eine breit angelegte internationale Vision und versucht den Museumsprofis bei der Suche nach angemessenen Arbeitsmethoden und dem entsprechenden Initiieren innovativer Prozesse zur Seite zu stehen.

Adele Maresca Compagna ist Präsidentin des italienischen Komitees von ICOM (International Council of Museums) und Mitglied der Ministerialkommission für die Aktivierung des nationalen Museumssystems. Im MIBACT-Studienbüro koordinierte sie von 1982 bis 2015 Forschungen und Umfragen zu Museen und veröffentlichte Aufsätze zu Bestimmungen, Professionalität und öffentlichen Dienstleistungen. Als neapolitanische Bergliebhaberin ist sie schon seit ihrer Kindheit in den Dolomiten unterwegs.

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