Bulletin 3.4

Als Matt Mullicans “imaginäres Universum” in die Lauben ausuferte

von Andreas Hapkemeyer
Foto Ludwig Thalheimer, Lupe

Die Nachricht von den schockierenden Ereignissen des 11. September 2001 erreichte uns beim Aufbau der Ausstellung im Museion. Matt Mullican und wir, die wir mit ihm zusammenarbeiteten, brauchten etwas Zeit, um das Ausmaß dessen zu verstehen, was passiert war. Mullicans Wohnung, wo er mit Frau und zwei Kindern wohnte, lag im Süden Manhattans, nicht sonderlich weit entfernt vom Ort des Attentats. Der Schreck über das Geschehen fuhr ihm tief in die Knochen. Ich war überzeugt, er würde sofort aufbrechen und alles stehen und liegen lassen. Ich hätte es verstanden. Nachdem Mullican aber in Erfahrung gebracht hatte, dass seine Familie unversehrt war, rang er sich durch, mit uns die Arbeit am Aufbau fortzusetzen. Wenige Tage später eröffneten wir More Details from an Imaginary Universe, eine Kooperation mit dem Museum Serralves in Porto, dem Kunstmuseum Oxford, dem Kunstmuseum St. Gallen und einigen anderen europäischen Kunstinstitutionen.

Die Eröffnung in Porto, der ersten Etappe der Ausstellung, war für mich eine Gelegenheit gewesen, mich noch einmal intensiv mit Matt Mullicans vielgestaltigem Werk auseinanderzusetzen. Was mich bei Mullicans Werk immer interessiert hatte, war die Zwitterstellung des Piktogramms zwischen Bild und Schrift, die ihm erlaubte, auf einer oberhalb der einzelnen Sprachen gelegenen Ebene zu kommunizieren. Natürlich geht Mullicans Werk weit über den Einsatz des Piktogramms hinaus, es spielt aber zweifellos eine zentrale Rolle. Die Ausstellung in Porto ließ deutlich erkennen, wie all die verschiedenen Arbeiten auf Mullicans zentrale Vorstellung von den fünf Welten zurückzuführen waren. Diese Vorstellung besagt, dass sich der Mensch ständig zwischen fünf Welten hin und her bewegt: der Welt der Vorstellung (subjective), der kaum beachteten (Alltags)-Welt (world unframed), der Welt der Dinge und Vorgänge, denen wir gesteigerte Aufmerksamkeit widmen (world framed), der Welt der Sprache (signs) und der Welt der Materie (elements).

Foto Ludwig Thalheimer, Lupe

Faszinierend an Mullicans System ist sicherlich, dass ein Objekt verschiedenen Welten angehören kann, je nachdem wie wir es wahrnehmen. Ein normaler Stein gehört zur Materie (grün). Wird dieser Stein aber vom Künstler in einer Ausstellung präsentiert, wechselt er über in die gerahmte Welt (gelb). Praktisch eine Variation auf Duchamps legendäres Pissoir, das auf dem Weg vom Geschäft, wo man es erwirbt, zum Ausstellungsraum seine Bedeutung verändert.

Im Verhältnis zu den anderen an der Mullican-Ausstellung beteiligten Museen war die Fläche des Museion im ehemaligen Spital relativ bescheiden. Deshalb beschlossen wir, eine Erweiterung der Ausstellung in den städtischen Raum vorzunehmen. Und zwar mit Fahnen des Künstlers, die seine Vorstellung der fünf Welten in Farben und Piktogramme übersetzen und sein Werk unverkennbar machen. Diese Fahnen sind z.T. riesig und mit ihren einfachen, mit starken Farben kombinierten Zeichen auch geeignet für Präsentationen im Außenraum. Nach Absprache mit der Gemeinde erhielten wir die Erlaubnis, die Fahnen auf mehreren Plätzen der Stadt, in der Spitalgasse neben dem Museion und in der zentralen Laubengasse zu positionieren. Sehr gut in Erinnerung habe ich noch die drei in relativ geringem Abstand voneinander montierten Fahnen in den Lauben. Vor allem am Morgen, wenn sie von der Sonne getroffen wurden, entwickelten sie eine enorme Leuchtkraft. Die Präsentation war im besten Sinn Ausstellung und Marketing-Aktion in einem. Es wäre interessant zu wissen, wieviele Leute sich noch an die damalige Fahnenaktion erinnern, die für uns Museumsleute unvergessen ist.

Foto Ludwig Thalheimer, Lupe

Auf die Frage, ob ein Betrachter eine Anleitung braucht, um seine Werke angemessen zu verstehen, hat Mullican einmal gesagt, ihm genüge ein intuitives Verständnis. Ich erinnere mich, mit welcher Freude Mullican von einer Frau erzählte, die er 2019 bei seiner Ausstellung in Mailand getroffen hatte und die beschlossen hatte, ihren Geburtstag mit Freunden in seiner Ausstellung zu feiern. Sie hatte seiner Meinung nach intuitiv alles verstanden. Tatsächlich sind ja zahlreiche seiner Piktogramme zugänglich, da sie Alltägliches zeigen. Andererseits bleiben Besucher_innen sicherlich die schwarzen Zeichen auf rotem und weißem Grund ein Rätsel. In ihnen geht es um historische und gegenwärtige Vorstellungen religiöser Natur: woher kommt der Mensch und wohin geht er? Gott, Engel und Teufel, Himmel und Hölle … Zum echten Verständnis solcher Zeichen sind Hintergrundinformationen notwendig. Die einfache Zeichenhaftigkeit täuscht darüber hinweg, dass hier z.T. sehr komplexe Themen angesprochen sind. Dass Mullican auch mit solchen Zeichen arbeitet, heißt nicht, dass er selbst in diesen Dimensionen – wie z. B Religion – denkt. Aber er entwickelt Zeichen für sie, da es sie gab und gibt. Vielleicht besteht die Faszination von Mullicans Zeichen gerade darin, dass es neben all den selbsterklärenden Zeichen des Alltags auch rätselhafte Zeichen gibt, deren Existenz man einfach hinnimmt. Oder die einen zum Nachfragen oder Recherchieren anregen.

Wie einprägsam Mullicans Piktogramme sind, kann man – sobald Corona das zuläßt – bis zum Sommer 2021 in der Passage des Museion sehen. Dort sind die 2006 von Mullican für den Bauzaun realisierten 102 signs for Museion ausgestellt. Mullicans Bilder haben durch die Kombination einfacher schwarzer Zeichen mit vier Grundfarben die Kraft des Elementaren. Auf Einfachheit beruht oft die Evidenz starker Kunst.

Andreas Hapkemeyer, verantwortlich für den Bereich Forschung & Lehre am Museion, zu dessen Urgestein er gehört. Ein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Bild-Text-Beziehungen, die auch im Zentrum seiner universitären Lehrtätigkeit und seiner Publikationen stehen.

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