Bulletin 3.5

„Hast Du überhaupt eine Genehmigung dafür?” 

Erinnerungen an Marina Fulgeris Werk „Voci al Cubo“

von Egeon
“Voci al Cubo”, 2010 - 2011. Mischtechnik auf Holzpaneele, LED Lichter. Stiftung MUSEION. Foto Ivo Corrà

Wenn ich ein Wandbild male, ist Kontakt mit dem Publikum an der Tagesordnung.
Eine der häufigsten Fragen, die mir beim Bemalen einer Wand – umgeben von Gerüsten, einer Hebebühne oder Dutzenden Farbeimern – gestellt wird, ist: „Hast du denn eine Genehmigung?“

Die Frage scheint ein bisschen komisch und naiv, aber tatsächlich zeigt sie auf, dass die Legitimität im öffentlichen Raum zu interagieren, implizit die Wahrnehmung des Werkes selbst beeinflusst, unabhängig von seiner Qualität. Das Werk kann also als hässlich oder schön, als Abscheulichkeit oder als Meisterwerk beurteilt werden, je nach Einschätzung des Themas. Ich habe auch schon mit dieser Ambiguität gespielt, um Reaktionen zu beobachten. Die kognitive Veränderung, die sie beim Publikum erzeugt, ist sicherlich einer der interessantesten Aspekte, die man während der Arbeit erlebt. Die besonders Neugierigen beurteilen technische Details oder fachsimpeln: “Ist die Farbe wasserfest? Und wer bezahlt dich?” Die Wagemutigsten geben dann sogar Ratschläge zu Farben, Komposition und dargestellten Motiven. Fragen und Kommentare zu den Bedeutungen sind selten, vielleicht aus Bescheidenheit, oder wahrscheinlicher, weil die Praxis, einen kritischen Gedanken zu entwickeln, alles andere als üblich ist. Wenn das Terrain des Dialogs fruchtbar ist, tausche ich jedenfalls gerne die Rollen und drehe die gestellten Fragen um. “Und du, was würdest du darstellen?” Die Antwort gestaltet sich schwierig: Vollste Handlungsfreiheit im öffentlichen Raum, befreit von jeglichem Verbot, weckt atavistische Fragen in uns: In einem Zustand, in dem alles möglich ist, taucht die Grenze erst da auf, wo wir sie uns selbst setzen.

Marina Fulgeri, “Voci al Cubo”, 2010 – 2011, Fondazione Museion. Photo courtesy of the artist

Marina Fulgeri hat der Öffentlichkeit die Freiheit gelassen, mit den weißen Fassaden des Cubo Garutti zu interagieren. Das Resultat kann als soziale Studie im Park in der Via Sassari gelesen werden. Schriftzüge und Zeichnungen, die mit verschiedenen Techniken – vom Bleistift bis hin zur Sprühfarbe – angebracht wurden, überlagern sich, gehen nahtlos ineinander über, bedecken die gesamte Fläche und werden nur in Fensternähe etwas zurückhaltender.

Es fällt sofort ins Auge, dass der Großteil der Nachbarschaft italienischer Muttersprache ist oder zumindest Italienisch als gemeinsame Sprache verwendet. Es ist auch offensichtlich, dass in Bozen, und allgemeiner in Südtirol, die Writer-Szene eher klein ist. Entgegen jeglicher Vorhersage, die man in anderen Städten hätte treffen können, gibt es nur sehr wenige Tags (Kürzel), die auf Wiedererkennung ausgelegten Zeichen der Graffiti-Szene, und die wenigen vorhandenen wurden alle mit Marker (Stift mit permanenter Farbe) gemacht. Die gesprayten schwarzen, roten, goldenen und grünen Schriftzeichen scheinen zur gleichen Zeit von verschiedenen Personen gemacht worden zu sein. Ich stelle mir den Moment gerne vor: Es ist Abend, das Datenvolumen auf dem Handy reicht für ein paar Lieder, eine Spraydose pro Farbe mit einem einfachen Sprühkopf, es gibt nur noch wenige Zigaretten, unendlich viel Zeit zu vergeuden und den Wunsch, zusammen zu sein. Unter dem Farbspray lesen wir Namen von Personen, die Buchstaben sind zarter, eher intuitiv oder „schulisch“ und auch diese scheinen gleichzeitig geschrieben worden zu sein, vielleicht von einer Klasse oder einer Gruppe aus einem Jugendzentrum, die ihre Werkzeuge untereinander ausgetauscht haben. Sie erinnern mich an einige Kurse, die ich für Jungen und Mädchen im Teenageralter gehalten habe. Zum Erlernen des Umgangs mit der Spraydose bat ich sie, das Erste zu schreiben, was ihnen in den Sinn kam. Fast immer Name und Wohnort; es scheint fast ein intrinsischer Faktor zu sein, aber ein Zeichen an der Wand hat viel mit dem Gefühl von Zugehörigkeit zu tun.

Marina Fulgeri, “Voci al Cubo”, 2010 – 2011, Fondazione Museion. Photo courtesy of the artist

Alles in allem sind die Interventionen am Cubo Garutti einer Gruppe von Menschen zuzuschreiben, die vermutlich nicht älter als 15 Jahre sind, was schade ist: Ich hätte gerne Unterschriften oder Kommentare von erwachseneren Personen gelesen und so eine umfassendere Vision der Community entdeckt. Wer weiß, was passiert wäre, wenn ein Polizist, der die Installation nicht kannte, vorbeigekommen wäre und einen älteren Herrn beim Schreiben auf der Wand erwischt hätte

„Entschuldigen Sie, was machen Sie da?“ – „Ich habe die Erlaubnis!“

Auf eine Wand zu schreiben, ist in den Augen anständiger Menschen, selbst wenn es erlaubt ist, ein frecher und ungehöriger Akt, der die städtische Ordnung stört. Kurz gesagt: Es ist schlecht. Marina Fulgeris Werk entspricht sicher nicht einem orthodoxen ästhetischen Kanon und sicher ist Schönheit nicht die finale Absicht eines Werkes dieser Art. Die Arbeit zeigt sich als Nachbarschaftstagebuch ohne Filter, das einen Blick auf das soziale Gefüge zu werfen vermag und einen originären Aspekt der Streetart aufgreift, der sich der Logik der Vormundschaft oder des Auftrags entzieht und als spontane Aktion für sich steht. Diese Interaktion im öffentlichen Raum ruft ein ähnliches Gefühl hervor, wie wenn am Ende einer Konferenz das Publikum gefragt wird, ob es noch Fragen gibt. Wer unter solchen Umständen antwortet, hat mindestens eine dieser Eigenschaften: Mut, Leichtigkeit oder Weisheit. Ich denke, dass derartige Aktionen angeregt werden sollten, um Ausdrucksmöglichkeiten zu verbreiten und um zu Bedeutungshaftigkeit anstatt zur Schönheit zu erziehen.

Egeon (Bozen, 1990) ist ein auf das Wandbild spezialisierter Künstler. Er hat Arbeiten in verschiedenen italienischen Städten realisiert, aber auch im Ausland, etwa auf den Kapverdischen Inseln, auf Kuba, in Holland und Frankreich. Auch wenn er eigentlich ein Eremit ist, ist er sehr gerne unter Menschen.

Bulletin 3