Bulletin 3.3

Wie weit ist der Raum, in dem wir leben, öffentlich?

Ein Dialog mit Lungomare

Co-Carts, workshop, Bozen, Oktober 2020. Ein Projekt von orizzontale, courtesy Lungomare. Foto Claudia Corrent.

Lungomare ist ein anerkannter kultureller Akteur, der produziert, kuratiert und interdisziplinäre Projekte in den Bereichen Kultur und Design hervorbringt mit einem speziellen Fokus auf der Untersuchung des öffentlichen Raums. Die Frage, die im Zentrum ihrer Aktivitäten steht, ist: Wie öffentlich ist der öffentliche Raum? Wir haben mit ihnen darüber gesprochen, wie sie die pandemiebedingten Einschränkungen erlebt haben. Und darüber, welches Potenzial das Unvorhergesehene haben kann, aber auch über andere Fragen.

1. Lungomare hat schon immer einen besonderen Fokus auf die Erforschung des öffentlichen Raums gelegt. Seit über einem Jahr erleben wir nun aufgrund der Einschränkungen durch die Covid-Pandemie einen Raum, der nicht mehr wirklich “öffentlich” genannt werden kann. Welche Visionen für den öffentlichem Raum habt ihr in dieser Zeit entwickelt?

Der öffentliche Appell, der uns nun seit fast einem Jahr begleitet, heißt: Abstand bedeutet Sicherheit. Der öffentliche Raum ist ein Raum, in dem wir uns begegnen, in dem wir von anderen gesehen und gehört werden und in dem unterschiedliche Perspektiven ein gemeinsames Verschiedenes konstituieren. Im öffentlichen Raum werden gemeinsame Welten geschaffen. Die Corona-Pandemie verunmöglicht das und immer mehr setzt sich so die Perspektive einer Welt durch, während die differenzierten Sichtweisen gemeinsamer Welten in den Hintergrund treten. Wir müssen uns in imaginäre, private und virtuelle Schutzräume (wenn uns diese Räume überhaupt zur Verfügung stehen) zurückziehen und leben den öffentlichen Raum nur mehr stark beschränkt, der Austausch und das Lernen vom Unvorhersehbaren geht verloren.

Lungomare begreift den öffentlichen Raum als Contact-Zone und möchte mit seinen Projekten und Interaktionen Gemeinschaft immer wieder neu verhandeln. Wir gehen den Fragen nach, wie wir Begegnung gestalten und erleben, wer im öffentlichen Raum ausgeschlossen wird und wer teilnehmen darf. Da sich dieser Raum aktuell im Pause-Modus befindet und Kontakte vermieden werden müssen, nimmt das Lernen im Austausch mit einer erweiterten Gemeinschaft ab – ein enormer Verlust für uns alle. Außerdem wird Gefühlen wie Angst, Misstrauen und Kontrolle sehr viel Platz eingeräumt.

“Co-Carts”, test ride, Bolzano, Oktober 2020. Ein Projekt von orizzontale, courtesy Lungomare. Foto Giulia Faccin.

2. Sicherlich ist durch die Pandemie die Möglichkeit, den öffentlichen Raum als Contact-Zone verschiedener Gemeinschaften zu erleben, unterbrochen oder wie Ihr sagt, im „Pause-Modus“. Denkt Ihr aber nicht auch, dass Covid andererseits, gerade die Existenz unterschiedlicher Gemeinschaften und die Notwendigkeit von Begegnungen ins Bewusstsein gerückt hat? In eurer Arbeit geht es euch darum, überhörte oder ungehörte Stimmen hörbar zu machen, auf Ausgrenzungen und Einschränkungen der persönlichen Freiheiten hinzuweisen. Könnte dieses neue Bewusstsein euren Projekten in Zukunft noch mehr Dringlichkeit verleihen und dadurch auch mehr Relevanz und Aufmerksamkeit?

Die Corona-Pandemie macht einerseits viele Ungleichheiten sichtbarer, aber unsere Abschottung in den eigenen vier Wänden, macht sehr viel Dringliches auch unsichtbarer. Damit diese Unsichtbarkeit aber nicht in Gleichgültigkeit mündet, sucht Lungomare nach Wegen sich aktiv über die Kulturarbeit in gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen einzubringen. In diesen Monaten entwickelt Lungomare – in Zusammenarbeit mit Kunst Meran und der Summer School Südtirol – eine Kampagne, welche die Rolle der Frau (und unserer Gesellschaft) reflektiert. Zentrale Themen der Kampagne sind die erschreckende Zunahme von häuslicher und sexualisierter Gewalt an Frauen, die unzähligen Feminizide der letzten Monate und die prekären Arbeitsbedingungen sehr vieler Frauen in den so wichtigen “systemrelevanten” Berufen.

Ein anderes Projekt hat seinen Anfang während der Künstlerresidenz 2020 genommen: gemeinsam mit dem Architekturkollektiv orizzontale aus Rom initiierte Lungomare das Projekt “Co-Carts – Fahrzeuge für die Gemeinschaft”. Der Startpunkt des Projektes lag inmitten des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 und der Wunsch danach, unsere gemeinsamen Räume in der Stadt zu leben und ihnen ihre zentrale Funktion für eine lebendige Stadtgemeinschaft zurückzugeben, war groß. In engem Austausch mit weiteren Vereinen und AktivistenInnen aus Bozen (Vivi Maso della Pieve/Officina Vispa, Spazioautogestito 77, Fridays for Future South Tyrol) sind Fahrzeuge entstanden, die mit ihren Funktionen den öffentlichen Raum der Stadt punktuell verändern und allen Beteiligten Werkzeuge und Strategien zur Verfügung stellen, um ihre Aktivitäten in den öffentlichen Raum zu verlagern.

3. Wie funktionieren die Co-Carts?

Die Co-Carts sind fünf Anhänger, die an jedem Fahrrad festgemacht werden können. Die Anhänger haben ein eingebautes Megaphon, das Proteststimmen verstärkt und wichtigen Botschaften die notwendige Lautstärke verschafft; auf den Fahrzeugen können temporäre Ausstellungen stattfinden, ein Tisch lädt zu gemeinsamen Aktionen ein, eine Kinoleinwand schafft eine Projektionsfläche, ein Scheinwerfer leuchtet Plätze aus und die Klappen und Flügel der Fahrzeuge bilden einen temporären Spielraum. Wir hoffen, dass die Co-Carts im Sommer 2021 aktiv werden können und eine Vielzahl von Contact-Zones schaffen. Denn der öffentliche Raum wird erst dann öffentlich, wenn er mit anderen Räumen und Menschen verbunden ist und ein Austausch stattfindet.

“Co-Carts”, test ride, Bolzano, Oktober 2020. Ein Projekt von orizzontale, courtesy Lungomare. Foto Giulia Faccin.

4. Zu Beginn habt Ihr von der Möglichkeit, „vom Unvorhersehbaren zu lernen“ (der Austausch und das Lernen vom Unvorhersehbaren geht verloren) gesprochen, die ein frei erlebter öffentlicher Raum bietet. Was kann aus Eurer Erfahrung, aus dieser Dimension des Unvorhersehbaren entstehen? Welche Möglichkeiten kann sie eröffnen? (Schließlich leben wir auch jetzt einen langen Moment einer unvorhergesehenen Situation).

Die Philosophin Luisa Muraro hat kürzlich in einem Interview, bezugnehmend auf unsere aktuelle Situation, folgenden Satz gesagt: Wir müssen in unserer Gegenwart noch gegenwärtiger sein. Eigentlich tendieren wir dazu, in der Gegenwart immer das Morgen zu planen und konzentrieren uns weniger auf das Hier und Jetzt. Aktuell scheint aber die Zukunft so ungewiss zu sein, wie selten zuvor. Das Unvorhergesehene bringt uns in die Gegenwart, in die Realität und wird zu einem produktiven und greifbaren Gestaltungsraum. Wenn wir etwas in die Praxis umsetzen, tauschen wir uns aus und lernen uns kennen, Dinge werden plötzlich konkret und sichtbar. Das Unvorhergesehene verbirgt für uns also unendlich viele Möglichkeiten – denn dort erfahren wir, findet einen Wissensaustausch statt und wir befreien uns von den Erwartungen, die uns selbst so oft einschränken.

Lungomare (Bozen, Italien) gestaltet, kuratiert und produziert transdisziplinäre Kultur- und Designprojekte und Kollaborationen am Schnittpunkt von öffentlichen, virtuellen, gedruckten, urbanen sowie ausstellenden Räumen. Lungomare arbeitet in disziplinübergreifenden Konstellationen und ist eine diskursive Plattform für die Erprobung und Produktion alternativer Formen künstlerischer, kultureller und aktivistischer Praxis, die gesellschaftspolitische Fragen verhandelt. Außerdem ist Lungomare ein Ort der Geselligkeit am grünen Stadtrand von Bozen.

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