Bulletin 4.5

Leonie Radine. High on Bolzano

von Leonie Radine
Foto: Museion

„Mit Leonie Radine begrüßt das Museion eine Kuratorin mit bemerkenswerter Erfahrung in Ausstellungsgestaltung und institutioneller Praxis, sowie einem breiten internationalen Netzwerk, in seinem Team. Ihre Ernennung ist ein außergewöhnlicher Impuls für das Content-Team von Museion, das seine internationale Rolle weiter fördert und gleichzeitig ein neues ziviles Profil in Südtirol aufbaut. Man könnte sagen, dass Museion in Bezug auf seine Museumsjahren noch eine junge Institution ist. Ich freue mich darauf, gemeinsam mit talentierten und visionären Menschen ein neues Kapitel in seiner Entwicklung einzuläuten.“

– Bart van der Heide, Direktor Museion

Bozen ist ein magischer Ort. Nachdem ich siebeneinhalb Jahre in Köln und zuvor sechs Jahre in Berlin gelebt habe, ist Südtirol eine absolute Bewusstseinserweiterung. Jeder Baum an der Talfer trägt seinen Namen in drei Sprachen! Die Sensibilität für das lokale Ökosystem ist beeindruckend – sowohl in Hinblick auf das Zusammenleben von Organismen unterschiedlicher Spezies als auch auf die hiesige Kunst- und Kulturszene, die ich mir gerade durch die hohe Veranstaltungsdichte erschließe. Durch Atelierbesuche, Treffen mit Künstler*innen, Touren in die Umgebung – geschätzte und bekannte Kolleg*innen in Venedig, Mailand, Turin oder Innsbruck sind ja auch nicht weit – und einen regen Austausch mit der Universität, Projekträumen, Festivals, Initiativen und Communities möchte ich immer tiefer einsteigen.

Das großartige Team im Museion hat mich gleich sehr herzlich aufgenommen, und ich freue mich darauf, gemeinsam Berge zu versetzen und Barrieren abzubauen. Die Gestaltung der Inhalte, des Programms und der Öffentlichkeitsarbeit im Museion obliegt ja nicht nur dem Kernteam, sondern erfolgt auch im Ensemble mit starken Stimmen aus der Stadtgesellschaft und im transnationalen Dialog spannender Rechercheteams. Das Museion ist insofern mit seinen neuen Organisationsstrukturen, seiner Sammlung, seinem Atelierhaus und seinen vielseitigen Veranstaltungsräumen einer der reizvollsten Orte, an denen die Idee des Museums immer wieder neu aus der Kunst heraus und interdisziplinär verhandelt wird – sowohl in Hinblick auf einen gesellschaftlichen Diskurs als auch auf eine soziale Praxis. Bart van der Heides Arbeit und Energie schätze ich schon seit vielen Jahren, und ich teile seine ambitionierten Visionen für das vergleichsweise junge Museum. Ich freue mich darauf, ihn, die Stiftung, das Team dabei unterstützen, globale Dialoge zu vertiefen, institutionelle Netzwerke weiter auszubauen und sowohl herausragende internationale Künstler*innen nach Bozen einzuladen als auch die internationale Sichtbarkeit regionaler Positionen zu stärken. Vor dem Hintergrund meiner bisherigen Auseinandersetzung mit zentralen institutionellen Fragen der Zugänglichkeit, teile ich die vor allem aktuell durch die kommende Ausstellung Kingdom of the Ill umso dringlicher und mit mehr Nachdruck verfolgten Ambitionen des Teams, dynamische und durchlässige Räume zu schaffen, in denen Fürsorge und Diversität gelebt und nicht nur repräsentiert werden.

In diesem Sinne möchte ich gemeinsam queerfeministische, dekoloniale und antidiskriminierende Ansätze weiter ausarbeiten, die ich in der Vergangenheit am Museum Ludwig in Köln verfolgt habe. Dort habe ich unter anderem zwei interdisziplinär und diskursiv ausgerichtete Ausstellungen in der experimentellen Projektreihe HIER UND JETZT im Museum Ludwig kuratiert: In Transcorporealities reflektierten Jesse Darling, Flaka Haliti, Trajal Harrell, Paul Maheke, Nick Mauss, Park McArthur, Oscar Murillo und Sondra Perry (2019/20) das Museum als durchlässigen Körper, in dem verschiedene biologische, soziale, technologische, politische und wirtschaftliche Systeme ineinanderfließen. Inhaltlich und methodisch sehe ich einige Parallelen zu Techno Humanities und den Impulsen einer neuen Geisteswissenschaft, die nicht vom menschlichen Egozentrismus angetrieben, sondern durch Formen der Interaktion zwischen lebenden und nicht-lebenden Entitäten geprägt ist. Für das Projekt Hausbesuch haben 2016 Marwa Arsanios, åyr, Neïl Beloufa, Pia Camil, Calla Henkel und Max Pitegoff sowie Mélanie Matranga in ausgewählten Wohnräumen in der Stadt neue ortsspezifische Interventionen oder Performances realisiert – in einer Zeit, in der Begriffe von Öffentlichkeit, Pri­vat­sphäre, Transparenz oder Gast­fre­und­schaft durch neue technologische und sozialpolitische Entwicklungen virulent neu verhandelt wurden. In beiden Projekten war es das Ziel, mit den Künstler*innen über die räumlichen und konzeptuellen Grenzen der Institution hinauszudenken und neue Handlungsräume zu erproben.

Als spirituelles Kind der Wissenschaftsphilosophin Donna Haraway orientiere ich mich gerne an drei ihrer Kerngedanken: Storytelling for Earthly Survival – Es gibt nie genug Geschichten aus diversesten und marginalisierten Perspektiven zu erzählen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen und Wissen zu produzieren. Gerade in diesen verunsichernden Zeiten massiver gesellschaftlicher, politischer und ökologischer Krisen und verheerender Kriege ist ein verantwortungsbewusstes, nachhaltiges und umsichtiges Handeln von Museen als Orten transnationaler und sozialer Verständigung umso wichtiger. Die sowohl widerständige als auch vermittelnde Rolle von Kunst und Kultur ist essenziell. Making (Odd)Kin – (Ungewöhnliche) Verwandte machen – ist Haraways Aufruf zu artenübergreifenden Allianzen an den Schnittstellen zwischen Natur, Kultur und Technologie. Sicher wird auch die nächste große Einzelausstellung 2023 in dieser Hinsicht ein poetisches Zeichen setzen. Staying with the trouble – Unruhig bleiben – ruft zur Auseinandersetzung mit den soziopolitischen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit auf: Ziehen wir uns nicht zurück in unsere Komfortzonen, sondern handeln wir!

In diesem Sinne – Sono arrivata. Um in Bewegung zu bleiben.

Bulletin 4