Bulletin 2024.4

„Der richtige Moment“
Ugo Carrega, zwischen Bildern und Worten

Eine Erinnerung von Ivo Corrà

Ugo Carrega nel suo studio, Milano 2010 Photo credits: Ivo Corrà

Der Bozener Fotograf Ivo Corrà lernte in den 1990er-Jahren Ugo Carrega kennen, dessen Schüler er an der Accademia di Brera in Mailand war. Aus dieser Begegnung erwuchs schon bald eine enge Freundschaft, die über den Rahmen der akademischen Klassenräume hinausreichte und Bestand haben sollte. Anlässlich der Ausstellung „Poetry in the box“, die noch bis zum 01.09.2024 in der Museion Passage zu sehen ist, öffnete Corrà sein Archiv, um einige Momente seiner persönlichen Erinnerung an Carrega wieder aufleben zu lassen. Zwischen Bild- und Wortfragmenten tritt die Gestalt eines Künstlers, Freundes und Lebensmeisters hervor, dessen unermüdliche und großzügige Bereitschaft zum Teilen eingefangen wird.

Wir lernten uns 1992 an der Brera kennen, wo ich den Dekorationskurs bei Vincenzo Ferrari besuchte. Dieser war aufgrund einer anderweitigen Verpflichtung verhindert und hatte Ugo Carrega gebeten, ihn zu vertreten … Er bat die Studierenden des vierten Studienjahres, ihre Arbeiten zur Ansicht mitzubringen, und als er meine Fotografien sah, war er begeistert. Wir verstanden uns auf Anhieb auch auf einer menschlichen Ebene.

Links: Ugo Carrega con studenti al Bar Brera, Milano 1992. Rechts: Bar Brera, Milano 1992 Photo credits: Ivo Corrà

Natürlich war er mein Lehrer, und wir diskutierten viel im Unterricht, wie aber erklärt man Kunst? Man sieht sich an, was der eine oder die andere macht, also die Werke anderer Künstler und Künstlerinnen, und daraus ergeben sich dann intensive Diskussionen. In der Brera besuchten wir gemeinsam Vernissagen, gingen zusammen essen, und manchmal lud er uns auch zu sich nach Hause ein.

Ritratto di Ugo Carrega, Milano 1992 Photo credits: Ivo Corrà

Ugo ließ sich nicht gerne fotografieren. Ich musste ein Gefühl dafür entwickeln, wann der richtige Zeitpunkt für bestimmte Porträtaufnahmen war.

Links: Ugo Carrega con Alain Arias-Misson, Venezia 1993. Rechts: Ugo Carrega con Massimo Girelli, Venezia 1993 Photo credits: Ivo Corrà

1993 stellte er auf der Biennale in Venedig aus, und wir fuhren gemeinsam hin.
Er war viel unterwegs, versuchte, Kontakte zu knüpfen und uns zu zeigen, wie das Kunstumfeld, die Galerien und die Mechanismen des Kunstbetriebs funktionieren. Das war seine Art des Unterrichtens: Er bezog uns in etwas ein, das über den schulischen Rahmen hinausging, denn um es geradeheraus zu sagen: Künstler zu werden, lernt man nicht an der Kunstakademie. Es reicht nicht, lediglich „die Hausaufgaben zu machen“.

Ugo Carrega nello spazio espositivo “Euforia Costante” Milano 1993 Photo credits: Ivo Corrà
Spazio espositivo “Euforia Costante”, Milano 1993 Photo credits: Ivo Corrà

Eine Zeit lang betrieb er den Kunstraum „Euforia Costante“ unweit der Galerie Mudima in Mailand. Er fragte mich und einen Freund, ob wir ihm bei der Galeriearbeit unterstützten könnten: Das war eine Weise, uns zu helfen, etwas Geld zu verdienen, so war er eben…

Ugo Carrega con Ivo Corrà, Milano 2004 Photo credits: Ivo Corrà

In Erinnerung ist mir ein eleganter Mensch, ein Mensch von seltener Eleganz, auch in seinem Geist. Zudem war er ein Mann von großer Integrität, der seinen Vorstellungen treu blieb, er machte keine halben Sachen und tat sich schwer mit Kompromissen… Ist man integer in einer Welt, die es nicht ist, so kann man sich entweder verstellen oder man gerät mit anderen aneinander. Er scheute nicht die Konfrontation. Diese intellektuelle Redlichkeit ist und bleibt eine der wichtigsten Lehren, die er mir mitgegeben hat.

Wenn man in seinen Zwanzigern einem Menschen begegnet, den man respektiert und der in der Lage ist, sich zu deiner Arbeit zu äußern und sie zu schätzen, dann ist das etwas Wertvolles, das einem sehr viel gibt. Er war ein Lehrer, vor allem aber ein sehr guter Freund. Außerdem haben wir viel zusammen gelacht …

Von Caterina Longo und Mara Vicino zusammengetragener Erinnerungsbericht für die Redaktion des Museion Bulletin

Die Ausstellung „Poetry in the box“

Die Ausstellung erzählt von der seit über 20 Jahren bestehenden Verbindung zwischen dem Mart und dem Museion: sie ist von Frida Carazzato, wissenschaftliche Kuratorin des Museion, und Duccio Dogheria, Kurator und Forscher am Archivio del ’900 des MART in Rovereto kuratiert. Beide Museumseinrichtungen teilen sich die außergewöhnliche Sammlung des Archivio di Nuova Scrittura, die ihnen 2020 von Paolo Della Grazia als Schenkung überlassen wurde und für die Ugo Carrega eine zentrale Rolle spielte. Die Ausstellung kreist um das Konzept der Schachtel – mal stellt sie selbst ein Kunstwerk dar, mal dient sie als Behältnis für Carregas Werke – und ist zugleich eine Hommage an die Geschichte des Mercato del Sale, an dem der Künstler als Kurator und Direktor wirkte. Zwischen 1974 und 1989 waren dem Mailänder Projektraum zahlreiche Künstler und Künstlerinnen der visuellen Poesie verbunden, die in der Ausstellung vertreten sind.

Der Fotograf Ivo Corrà (Bozen) studierte an der Accademia di Brera in Mailand und absolvierte eine Ausbildung zum Fotoassistenten in den Bereichen Modefotografie bei Franco Trinchinetti sowie Fotojournalismus bei Amedeo Vergani. In seiner Arbeit konzentriert er sich auf die Schwerpunkte Reportage, Porträt, Architektur- und Landschaftsfotografie. Darüber hinaus war er in der Kunstdidaktik tätig. Er war Mitbegründer der Vermittlungsabteilung des Museion und dort von 1998 bis 2018 für die Angebote der Kunstvermittlung zuständig.

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